Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)
Samurai unterzog ihn einem gnadenlosen körperlichen Ertüchtigungsprogramm. Er brachte ihm sonderbare Methoden bei, sich zu dehnen und dabei das Gewicht des eigenen Körpers zu nutzen. Außerdem drückte er ständig an den Gelenken des Jungen herum, drehte sie in ungewöhnliche Stellungen.
Vor allem aber ließ er ihn laufen. Manchmal zwei Stunden lang, dann wieder zehn Minuten, mit zwei Eimern Wasser, manchmal bergauf, dann wieder in der Brandung der Bucht. Vom Laufen war der Samurai geradezu besessen.
Einmal, als er gerade würgend bäuchlings auf dem Boden lag, fragte Bennosuke wütend nach dem Sinn dieser Übungen.
«Du kannst nicht kämpfen, wenn du nicht atmen kannst, Junge», erwiderte Munisai und sah zu ihm hinab. «Du kannst nicht kämpfen, wenn deine Beine müde werden. Du musst lernen, über die Schmerzgrenze deiner Muskeln und deiner Lunge hinauszugehen. Wenn du fünf Minuten lang kämpfen kannst, gewinnst du jeden Kampf. Und wenn du zweimal nacheinander fünf Minuten lang kämpfen kannst, fällst du auf keinem Schlachtfeld.»
«Ich kann fünf Minuten lang kämpfen», erwiderte Bennosuke.
«Das will ich sehen.»
Bennosuke versuchte, aufzustehen, aber für Munisai war es eine Leichtigkeit, ihm die Beine wegzutreten. Noch zwei Mal versuchte der Junge es, dann gab er sich geschlagen. Munisai sah höhnisch auf ihn herab, aber mehr als einen zornigen Blick brachte Bennosuke nicht mehr zuwege.
Und dabei war der Samurai die ganze Zeit neben ihm hergelaufen.
* * *
Wochen vergingen, Monate, und schließlich kam der Herbst, doch die Menschen sahen das nicht mit Bedauern. Sie erwarteten das Verfärben des Laubs, wie sie im Frühjahr die Kirschblüte erwarteten; der Anblick der roten, goldfarbenen und violetten Blätter war eine beruhigende Bestätigung des Kreislaufs des Lebens. Männer und Frauen aller Stände unternahmen Reisen, um sich berühmte Waldpanoramen anzusehen, Dichter und Maler ließen sich von dem herbstlichen Geäst inspirieren, und junge Pärchen nutzten verborgene Laubhaufen als Liebeslager.
Doch derlei Dinge – Liebe, Kunst, Kontemplation – waren Bennosuke jetzt fremd. Als er eines Nachts schlief, die Tür nach draußen offen, wo der orangefarbene Halbmond groß am Himmel hing, wurde er von einem aufstampfenden Fuß geweckt. Er öffnete die Augen und entdeckte Munisai, der mit gespreizten Beinen über seiner Brust stand und auf ihn hinabblickte.
«Verteidige dich!», sagte er und grinste so breit, dass Bennosuke den Mondschein auf seinen Zähnen blitzen sah.
Der Junge drehte sich zur Seite und wollte aufstehen, doch es war aussichtslos. Sofort drückte Munisai ihn mit einer Hand wieder hinab und setzte ihm ein Knie auf die Kehle. Nach Luft ringend, strampelte Bennosuke wild um sich, versuchte, sich zu befreien.
«Ich bin nicht einmal besonders leise gegangen, und dennoch habe ich dich überrascht», zischte Munisai. «Wie willst du deinen Herrn vor Attentätern schützen, wenn du schläfst wie ein Toter?»
Bennosuke würgte und packte Munisais Bein, um wenigstens kurz wieder Luft zu bekommen, doch der Samurai gab nicht nach. Vielmehr senkte er den Kopf, um die Qual und Panik im Gesicht des Jungen besser sehen zu können.
«Ein Säugling in der Wiege, weiter nichts», höhnte Munisai. «Ein faules Kind mit einem Holzkopf und ohne jedes Bewusstsein für die Welt ringsumher.»
Der Samurai wartete, bis der Junge die Augen verdrehte und ihm die Zunge hervortrat, dann erst nahm er das Knie von seiner Kehle. Bennosuke versuchte nicht einmal mehr, sich zu erheben, wälzte sich nur mit der Hand an der Kehle auf dem Boden. Munisai sah ihm noch einen Moment lang dabei zu. Dann seufzte er enttäuscht und ließ den Jungen wieder mit dem Mond allein.
Bennosuke schlief nicht noch einmal in Munisais Haus. Von nun an suchte er sich drinnen oder draußen eine Schlafstelle, wo er nicht zu finden war, und merkte bei jedem Laut auf.
* * *
Endlich ein Langschwert in der Hand zu halten war für Bennosuke ein berauschendes Gefühl. Es war zwar nur aus Holz, aber immerhin. So viel Macht hatte man ihm schon lange nicht mehr gewährt.
Munisai stand ihm im Dojo gegenüber. Er hatte dem Jungen neue Fechtmuster vorgeführt, und jetzt sollte er im Übungskampf zeigen, dass er sie verstanden hatte. Der Samurai trug den linken Arm immer noch in der Schlinge und hielt ein hölzernes Kurzschwert in der unversehrten Rechten. Er unternahm nichts, wartete darauf, dass der Junge ihn angriff. Dieser ging, so
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