Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)
Straße herrschte. Ein halbes Dutzend von Shinmens Samurai war mit Arbeiten oder Übungen beschäftigt oder hörte sich die Beschwerden der Ladeninhaber und Reisenden an, die meinten, dass ihnen Unrecht geschehen sei. An einer Mauer befand sich ein niedriger Holzkäfig, in dem erbärmlich aussehende Männer in schmutzigem Sägemehl hockten und auf einen Richter warteten.
Doch Bennosuke hatte keine Augen für all das. Er hatte eine seiner Meinung nach entschlossene Miene aufgesetzt, irgendwo zwischen ernst und finster, und marschierte schnurstracks zum eigentlichen Wachhaus. In einem offenen Vorraum, den man betreten konnte, ohne sich die Schuhe auszuziehen, saß im Schneidersitz ein älterer Samurai.
Er blätterte langsam in einem vergilbten Dienstbuch und sah nicht auf, als Bennosuke näher kam. Der Junge schluckte, hatte ein flaues Gefühl im Magen. Im Geiste übte er die Sätze, die er den ganzen Morgen vor sich hin gemurmelt hatte, und ging die Handbewegungen durch, mit denen er Munisais Schreiben übergeben würde. Als er schließlich vor den Mann trat, verneigte er sich zackig, wobei er hoffte, dass es einen angemessen militärischen Eindruck machte.
«Herr», sagte er, «ich möchte zu Hauptmann Tomodzuna.»
«Da habt Ihr leider Pech», erwiderte der Samurai, ohne den Blick von dem Buch zu heben. «Das Erdbeben vergangene Woche hat im Gebirge einen Erdrutsch ausgelöst. Der Hauptmann ist dorthin gereist, um sich die Schäden an den Straßen anzusehen.»
«Oh.» Mit einem Schlag war Bennosukes ganze Vorbereitung nichts mehr wert. Munisai hatte ihm gesagt, er solle sich direkt und nur bei dem Hauptmann melden – also was jetzt? Seine Kehle zog sich zusammen, sodass er es gerade noch schaffte zu krächzen: «Äh, wann kommt er denn wieder?»
«Morgen wahrscheinlich», gab der Mann zurück. «Ich bin hier der Leutnant, sein Stellvertreter. Kann ich vielleicht irgendetwas für Euch tun?»
«Äh, nein», antwortete Bennosuke. Mit heißem Kopf musste er sich sehr konzentrieren, nicht zu stottern und sich keinerlei Unentschlossenheit anmerken zu lassen. «Ich … äh … Ich komme dann morgen wieder.»
Zum ersten Mal sah ihn der Leutnant an, legte das Buch nieder und fragte: «Alles in Ordnung?» Offensichtlich spürte er, wie unruhig der Junge war. «Seid Ihr in Schwierigkeiten?»
«Nein, nein, alles bestens, wirklich», erwiderte Bennosuke, auch wenn eine innere Stimme ihm einflüsterte, was für ein Dummkopf er doch sei, dass die Sache schiefliefe und er sofort weglaufen, fliehen solle. «Ich geh dann mal wieder, äh, vielen Dank.»
Er verneigte sich zweimal, als wäre er ein niederer Höfling, der einem Adligen eine Tür öffnete, und huschte dann so schnell er es nur wagte wieder über den Hof und zum Tor hinaus.
Der Leutnant erhob sich mit steifen Gliedern, zog sich Sandalen an und trat nun auch auf den Hof hinaus, um etwas gegen seinen verspannten Rücken zu tun. Er sah dem seltsamen Jungen nach, bis er verschwunden war. Für ihn war die Begegnung lediglich etwas wundersam gewesen, aber er sah, dass jemand anderes ein weit lebhafteres Interesse an dem Jungen gefasst hatte: In dem Käfig presste sich einer der Gefangenen gegen die Gitterstäbe.
«Ein Freund von Euch?», fragte der Leutnant und schlenderte zu ihm hinüber.
«Ihr müsst mich rauslassen», sagte der Gefangene, den Blick starr auf die Stelle gerichtet, an der er den Jungen eben noch gesehen hatte.
«Mir scheint, Ihr habt ganz grundsätzlich etwas nicht verstanden, was Gefängnisse angeht», erwiderte der Leutnant.
«Ich bin jetzt wieder nüchtern. Ihr dürft mich nicht hierbehalten. Ich habe nichts verbrochen.»
«Tatsächlich?»
«Nur ein paar Tische umgeworfen», murmelte der Gefangene.
«Ihr habt das Mädchen geschlagen, spart Euch die Spucke, es zu bestreiten. Ihr Gesicht war ganz geschwollen, das arme Ding.»
«Ich habe ihr nur mit dem Handrücken eine gewischt, es war kein Fausthieb …» Doch die Worte verhärteten die Gesichtszüge des Leutnants nur noch mehr. Der Gefangene seufzte und machte eine resignierte Handbewegung. «Dann gebe ich Euch eine Handvoll Münzen – oder einen ganzen Eimer voll. Wisst Ihr, wer mein Herr ist?»
«Ja», grunzte der Leutnant. «Das ist der Grund, weshalb Ihr besser dran seid als manche Eurer Freunde da drin.»
Das halbe Dutzend Mithäftlinge in dem Käfig guckte finster herüber, die Gesichter übersät mit Prellungen und schorfbedeckten Wunden. Der Gefangene, der an nichts Schlimmerem
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