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Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)

Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)

Titel: Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Kirk
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war dunkel und tief, still und klar. Sein Abbild auf der Oberfläche war deutlicher als in jedem Kupferspiegel.
    Nur von einer Sorge musste er sich noch befreien. Sie war umso drängender geworden, je näher er dem Dojo und damit dem Ritual gekommen war. Oben auf dem Hang war er in Panik geraten, als er Bennosukes Tränen gesehen hatte. Die plötzliche Konfrontation mit aufrichtigen Gefühlen hatte ihn kalt erwischt und aus dem Konzept gebracht, und in einer Abwehrreaktion hatte der Samurai aus ihm gesprochen. Munisai hatte dem Jungen nicht das gesagt, was er – sein wahres, geheimes Ich, der Kern seines Wesens – ihm wirklich sagen wollte, nämlich:
    Lebe, Bennosuke. Wenn du einfach nur weiterleben würdest, wäre das eine schönere Rache an den Nakata, als ihnen tausend und mehr Gliedmaßen abzuschlagen. Lebe, Bennosuke. Das widerspricht zwar allem, woran ich glaube, aber ich kann nicht bestreiten, dass ich tief in meinem Innern einfach nur will, dass du weiterlebst.
    Doch er hatte sich in diesem Moment als Feigling erwiesen, und seine letzten Worte an den Jungen waren barsch und dogmatisch gewesen. Leider gab es jetzt keine Möglichkeit mehr, das richtigzustellen – der Moment war vorbei, wie überhaupt alle Momente seines Lebens, und der Junge befand sich nun im Dojo, inmitten von Männern, vor denen er solche Empfindungen unmöglich gestehen konnte.
    Er fragte sich, ob dies das wahre Maß sei, an dem ein Leben gemessen wurde: die Zahl der Worte, die man nicht gesagt, und die Zahl der Taten, die man nicht vollbracht hatte, wenn man abtrat. Aber was war dann mit den Worten, die man zwar gesagt, die aber falsch gewesen waren, oder mit den Taten, die man zwar vollbracht, später aber bereut hatte? Auch das hatte er vorzuweisen. In all dem ein Gleichgewicht, einen tieferen Grund oder irgendeinen Sinn zu finden, war jetzt nicht mehr möglich. Männer hatten jahrzehntelang über derlei Dinge nachgedacht, ohne eine Antwort zu finden, und wie viel Zeit blieb ihm jetzt noch? Der Rest seines Lebens natürlich … Aber das war nicht genug.
    Munisai atmete tief durch und rang seine Besorgnis nieder. Er brauchte innere Leere. Er konnte sich dem Seppuku nicht auf angemessene Weise widmen, wenn er im Herzen auch nur den leisesten Zweifel hegte. Er sagte sich, so wie Shinmen ihm damals einmal eine Chance gegeben hatte, so hatte er nun Bennosuke eine Chance gegeben. Wenn der Junge würdig war – woran Munisai nicht zweifelte –, dann war das alles, was er brauchte.
    Ein letzter Atemzug noch als Mensch.
    Lebe einfach nur weiter, Bennosuke, betete er. Ich hoffe, du hörst das irgendwie.
    Als er wieder auf die Wasseroberfläche hinabblickte, hatte sich Munisai bereits von der Vorstellung losgesagt, dass das Spiegelbild wirklich sein gesamtes Ich war. Sein Körper war nun weiter nichts mehr als das Gefäß seiner Seele. Ihm ging die Wahrheit auf: dass er ein großartiger Gedanke war, eingesperrt in ein Gefängnis aus Fleisch, allen möglichen Röhren und Schleim.
    Seine Hand tauchte ins Wasser und zerriss das Bild. Als sich die Wasseroberfläche wieder beruhigt hatte, war Munisai fort.
    * * *
    Bennosuke wartete mit den anderen in völliger Stille.
    Links neben ihm saß mit ernster Miene Tasumi. An den Wänden des Dojo knieten Männer in mehreren Reihen. Die Nakata hatten sie von Ukitas Hof in Okayama hierher eingeladen, und viele wollten mit eigenen Augen sehen, wie das Leben eines so berühmten Schwertkämpfers wie Munisai sein Ende fand. Sie kamen aus ganz Japan – Samurai, Höflinge, Gesandte, Fürsten – und trugen sämtlich die formellen geschwungenen Übergewänder in unterschiedlichsten Farben.
    Nur Weiß trug keiner. Diese Farbe war den Toten vorbehalten.
    Da Fürst Ukita nicht zu kommen geruht hatte, saßen Fürst Shinmen, Fürst Nakata und Hayato auf den Ehrenplätzen in der Mitte der Halle, auf niedrigen Hockern, die Hände auf den Knien, mit abwesendem Blick und steinerner Miene.
    Bennosuke hatte die Nakata argwöhnisch beobachtet, aber nichts bemerkt, das darauf hingedeutet hätte, dass sie noch etwas anderes vorhatten, als das Ritual zu verfolgen. Von dem selbstgefälligen Triumphgehabe, das Bennosuke erwartet hatte, war nichts zu sehen. Hayato hatte ihn, obwohl ihn der Junge misstrauisch beäugte, nicht eines Blickes gewürdigt.
    Doch er hätte ja ohnehin nicht allzu viel unternehmen können. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit hatte er kein Kurzschwert bei sich. Zwar hatte er sich noch nicht nach Mönchsart

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