Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
die sächs. Arbeiterztg.? Für morgen kündigt sie einen offenen Brief Plechanows an mich an. Bin neugierig,
was drin stehn wird.« 87 Als Rosa Luxemburg bei Kautskys erfuhr, daß Bernstein seit einiger Zeit die »Sächsische Arbeiter-Zeitung« nicht mehr bekam,
lieh sie ihm eigene Exemplare aus, da die Ausgabe mit Plechanows offenem Brief vergriffen waren. Sie hoffte, er laste angesichts
ihrer |107| Polemik die Versäumnisse der Expedition nicht ihrer Redaktionsführung an.
Rosa Luxemburg geriet in Dresden mit dem dortigen Reichstagsabgeordneten Georg Gradnauer in eine Pressefehde. Gradnauer, der
als politischer Redakteur des »Vorwärts« den Stuttgarter Parteitag völlig anders als sie in der »Sächsischen Arbeiter-Zeitung«
beurteilte, schickte eine Replik auf ihre Zurückweisung seiner Angriffe gegen die revolutionären Sozialdemokraten, die sie
prompt veröffentlichte. Er schickte eine zweite, die sie nicht abdruckte. Der Skandal war da. Gradnauer veröffentlichte seine
Entgegnung im »Vorwärts« und beschwerte sich bei der Dresdener Parteiorganisation, die über ihre Pressekommission eingriff.
Das Verhalten Gradnauers habe Methode und einen politischen Grund, schrieb Rosa Luxemburg am 26. Oktober 1898 in der »Sächsischen
Arbeiter-Zeitung«. Es sei dies jene Politik, die allen geben und niemandem nehmen, alle befriedigen und niemanden kränken,
alle Differenzen verwischen, alle Widersprüche aussöhnen, alle Gegensätze in einem Meer sauer-süßlicher Beschwichtigungslimonade
ertränken wolle. »War aber diese Politik allezeit für die Partei schädlich, so ist sie im gegebenen Augenblick doppelt unangebracht.
Sie ist es nämlich, die geeignet ist, das Gute und Wichtige, was der Stuttgarter Parteitag geleistet hat,
wieder rückgängig zu machen
, indem sie die in Stuttgart klar und offen konstatierten weitgehenden Meinungsdifferenzen in der Partei wieder ableugnen
und so die einmal geklärte Lage wieder ins Dunkle ziehen will. Das ist es, wogegen wir uns entschieden wenden müssen.« 88
An August Bebel schrieb sie: »Daß Bernstein in seinen bisherigen Ausführungen nicht mehr auf dem Boden unseres Programms steht,
war mir natürlich klar, daß man aber auch ganz die Hoffnung auf ihn aufgeben muß, ist sehr schmerzlich.« 89 Um so verwunderlicher sei daher, daß er und Kautsky die Diskussion verschleppten. Sie glaube, mit der Veröffentlichung von
Plechanows Brief an Kautsky »Erörterungen über die Taktik, wofür sollen wir ihm dankbar sein?« habe sie im Sinne Bebels gehandelt.
»Ist Bern[stein] wirklich verloren, so muß sich die Partei daran gewöhnen – wie schmerzlich es auch ist –, ihn nunmehr wie
einen Schmoller oder anderen Sozialreformer zu betrachten.« 90
|108| Rosa Luxemburg ließ August Bebel auch wissen, daß sie in der »Sächsischen Arbeiter-Zeitung« die Diskussion nicht fortsetzen
könne. Drei Mitglieder der Redaktion, Emil Eichhorn, Emil Nitzsche und Heinrich Wetzker, hatten am 30. Oktober 1898 im »Vorwärts«
gegen Rosa Luxemburgs Weigerung protestiert, einen weiteren Artikel von Gradnauer zu bringen. Rosa Luxemburg habe sich wohl,
wahrscheinlich durch Helphands Stellung verführt, eingebildet, schrieb Emil Eichhorn am 9. November 1898 an Wilhelm Liebknecht,
»sie könnte die Arbztg im Hand um Drehen zum ›Organ Luxembg‹ machen und nun auch absolut über alle in Frage kommenden Faktoren
herrschen. Ja, aber die gute Frau brachte die Fähigkeiten Helphands nicht mit. Von einer geordneten Redaktionstätigkeit, von
vernünftiger Arbeitsteilung keine Ahnung, pfuschte sie überall herum und ging einer Verständigung behufs Befriedigung dieses
Zustandes beharrlich aus dem Wege. Dazu kam dann jenes Vorkommnis mit Gradnauer, in dem sie wohl in abstracto Recht hat, das
aber doch auch von einer anderen, der praktischen agitatorischen Seite aus betrachtet werden muß.« 91
Rosa Luxemburg wollte das Niveau des nach ihrer Meinung verwahrlosten Blattes anheben, zum Mißfallen ihrer Redaktionskollegen
veränderte sie Rubriken, führte Neuigkeiten wie die Wirtschaftliche Rundschau ein und mischte sich in den Streit zwischen
Gradnauer und Mehring ein. Es mußte zum Krach kommen, weil die Kollegen sich zurückgesetzt fühlten und die Redaktion selbst
in die Hände nehmen wollten. Rosa Luxemburg bat Bebel und andere um Verständnis für ihren Rücktritt. In ihrer sehr empfindlichen
und gleichwohl bestimmten Art legte sie ihr Amt als
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