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Rosa

Rosa

Titel: Rosa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felix Thijssen
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worden, weil der Mann reden wollte oder tot war. So weit die festgebundenen Knöchel es zuließen, hatte er die Knie angezogen, als schämte er sich für den Urin, der eingetrocknete Flecken auf seiner Pyjamahose hinterlassen hatte.
    Es war deutlich, dass es unnötig lange gedauert hatte. Der Mann sah nicht aus wie ein Held, eher wie jemand, der schon beim Anblick der Zigarette alles erzählt hätte, was sie wissen wollten. Doch sie hatten den Knebel in seinem Mund gelassen und trotzdem weitergemacht, einfach weil sie Spaß daran hat ten.
    Ich betrachtete die aufgerissenen Augen und die erstarrte Grimasse auf dem Gesicht des Mannes. Es gibt kaum etwas Furchtbareres, als zum hilflosen Opfer eines Sadisten zu werden, kaum etwas Schlimmeres als die Hölle, durch die das Opfer hindurch muss, bis der Tod es erlöst. Ich fühlte seine Angst.
    Wut darüber, was Menschen einander antun, trägt wenig zur Lösung eines Falles bei, aber sie facht das Bedürfnis an, den Täter zu fassen und vor Gericht zu schleifen. Ihn zusammenschlagen darf man nicht. Manchmal ist das frustrierend.
    Ich suchte mit meiner Lampe nach Schaltern und machte Licht. Im Schein einer Stehlampe stand das Telefon auf einem Eichenschreibtisch in der Nische neben dem Schaukelstuhl.
    Ich musste die Polizei anrufen.
    Wieder hockte ich mich vor den Stuhl und versuchte, den linken großen Zeh und einen versteiften Finger des toten Mannes zu bewegen, um eine Ahnung vom Todeszeitpunkt zu erhalten. Die Leichenstarre war vollständig. Zahlreiche Faktoren beeinflussen den Rigor mortis, aber stets hat die Starre nach sieben bis acht Stunden den ganzen Körper erfasst. Nach drei Tagen ist sie wieder abgeklungen, wonach die Leiche sich weich und kalt anfühlt.
    Hier herrschten keine extremen Temperaturen, deshalb konnte ich wohl davon ausgehen, dass der Tod vor acht bis zweiundsiebzig Stunden eingetreten war. Gewiss nicht heute Abend, und tagsüber waren sie sicher auch nicht gekommen. Ich tippte auf gestern Abend oder Nacht. Angenommen, er ging gegen elf Uhr zu Bett. Im Schlafzimmer gab es keine Kampfspuren, aber die Pantoffeln vor dem Bett wiesen darauf hin, dass er sich entweder nicht die Zeit genommen hatte, sie anzuziehen, oder nicht freiwillig hinuntergegangen war. Vielleicht hatte er gar nichts gehört und sie hatten ihn überrascht, als er sich gerade die Zähne putzte und sich auf das Zubettgehen vorbereitete. Vor vierundzwanzig Stunden.
    Ich sah dunkle Blutergüsse an seinem Hals. Möglicherweise hatte er noch gelebt, als sie mit ihm fertig waren, und die Täter hatten ihn erwürgt, weil er sie kannte oder hätte wiedererkennen können. Viel Kraft hatte es nicht erfordert.
    Wir denken immer an sie. Die Täter. Dabei mussten sie keineswegs zu mehreren gewesen sein. Jeder beliebige Passant hätte diesen zerbrechlichen Junggesellen überwältigen können.
    Vielleicht hätte er noch gelebt, wenn ich auf der Hinfahrt nach Feerweerd bei ihm vorbeigeschaut hätte anstatt auf dem Rückweg. Wenn, wenn. Als Polizist macht man sich solche Gedanken. Wenn ein Streifenwagen vorbeigekommen wäre. Wenn jemand Glas splittern gehört und die Polizei gerufen hätte. Wenn er einen Hund gehabt hätte.
    Ich musste die Polizei benachrichtigen.
    Ich hielt mich exakt an den Weg, auf dem ich das Zimmer durchquert hatte, um so wenige Spuren wie möglich zu zerstören. Sie hatten keine Unordnung verursacht und auch hier sah ich keine Spuren eines Kampfes, außer einem schief stehenden Sessel, eventuell beiseite gestoßen, als sie ihn daran vorbei zum Schaukelstuhl brachten. Alte Schwarz-Weiß-Fotos in Silberrahmen an den Wänden. Ein Mann mit einem kleinen Jungen, zwei ältere Leute. Ein Foto von Leuten vor einem Haus im Kolonialstil mit Säulen, weißen Gartensonnenschirmen und schwarzen Bediensteten in weißen Uniformen. Indonesien vielleicht. Das Haus strahlte die gesetzte, koloniale Atmosphäre aus, wie sie typisch für Den Haag ist. Batik über dem Kaminsims, dazu ein Kris und Kupfergegenstände. Ein Sofa, ein Fernseher auf einem Tischchen neben dem Kamin. Ein Radio, eine Bronzefigur, einige echte oder nachgemachte klassische Gemälde, keine helleren Rechtecke auf der gestreiften Tapete. Sie waren nicht wegen des Fernsehers oder der Bilder gekommen. Das hier war kein gewöhnlicher Einbruch.
    Was wollten sie herausfinden?
    Einbrecher konnten von einem alten, allein lebenden Mann nur eines wissen wollen. Sie kannten seine Besitzverhältnisse. Alles, was sie brauchten, war die

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