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Rosa

Rosa

Titel: Rosa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felix Thijssen
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Safekombination, das Versteck des Sparstrumpfs oder den Aufbewahrungsort der wertvollen Münzsammlung.
    Ich folgte meiner Spur zurück zur Nische, griff zum Telefon und rief die Polizei an. Ich nannte ihnen die Adresse und meldete, dass ein alter Mann ermordet worden war. Sie wollten wissen, wer ich war und was ich dort machte. Ich hatte mir noch keine passende Antwort überlegt, wich der Frage aus und versprach, auf sie zu warten.
    Neben dem Schreibtisch stand ein offener Wandschrank mit Stapeln von Stoffmappen, Ringbüchern und Pappkartons. Ich behielt meine Handschuhe an, hob Deckel hoch und schlug Mappen auf. Ich sah gelbliche, dicht beschriebene Blätter von brüchigem Durchschlagpapier aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts, Ausschnitte aus alten Zeitungen, Mappen voller handgeschriebener Briefe. Ich ließ sie an Ort und Stelle und betrachtete eine vergilbte Zeitschrift, die neben dem Telefon lag und den Titel Europa trug. Das orangefarbene Titelblatt zeigte die Abbildung einer Frau, die ziemlich unbequem, die Hände in Ketten über dem Kopf, die Haare im Wind, auf einem heranstürmenden Stier saß. Nummer I, November 1955, Kunst & Kultur.
    Dem Impressum zufolge war es eine Ausgabe des Verlages De Spiraal in Brügge, in Zusammenarbeit mit der Christlichen Arbeitsgemeinschaft für Westeuropa. Ich konnte mir rein gar nichts darunter vorstellen, doch die Redaktion besaß, wie damals üblich, sowohl einen kulturellen als auch einen geistlichen Berater, Hochwürden Pater Jowan de Kever. Die Mitarbeiter stammten aus aller Herren Länder, sogar aus dem Kongo, und es befanden sich bekannte Namen darunter, etwa Giovanni Papini, Heinrich Böll, der Ungar Bela Just, Gerrit Achterberg, André Demedts. Auf dem oberen Rand stand eine mit Bleistift gekritzelte Notiz, dahinter ein Fragezeichen. Sie schien neueren Datums zu sein: Ben Laacken, Verleger aus Amsterdam? Ich kontrollierte den Lederbecher unter der Schreibtischlampe. Neben einem Füller und einer Schere standen auch zwei Bleistifte darin.
    Ich blätterte mit einem behandschuhten Finger die Zeitschrift durch.
    Nach Ansicht von Doktor Tschu hat sich Europa stark verändert, schrieb Papini . Dabei fiel Doktor Tschu wohl hauptsächlich auf , dass in letzter Zeit immer deutlicher ein gewisser Niedergang vom Höheren zum Niedrigeren in der geistigen Anatomie der Menschen wahrnehmbar sei.
    Ich warf einen Blick auf den Mitleid erregenden toten Mann in seinem Kolonial-Schaukelstuhl und dachte bei mir, dass Doktor Tschu wahrhaftig Recht hatte, selbst wenn er sich, als Chinese, ziemlich merkwürdig ausdrückte. Der Interviewer hatte offenbar auch nicht begriffen, was mit ›geistiger Anatomie‹ gemeint war, und der Doktor erklärte, nach chinesischen Vorstellungen könne der menschliche Körper entlang einer imaginären Linie in Nabelhöhe in zwei Hälften aufgeteilt werden. Die Körperteile über dieser Linie seien die edlen, die darunter die weniger edlen.
    Ich las, dass Doktor Freud sowie der Romanautor Lawrence das Lebenszentrum in ihren Theorien nach unten verlagert hätten, von den oberen, edlen Teilen zu den so genannten erogenen Zonen unten, und dass sie der überhöhten Bedeutung des Sexuellen zum Triumph verholfen hätten. Mein Interesse war geweckt, aber ich hörte eine Autotür schlagen und ließ Papini und den Rest Europas liegen, um die Haustür zu öffnen.
    Es gab eine altmodische Diele mit Regenmantel an der Garderobe und einer Haustür mit Kupferknauf und einem Riegel, der nicht vorgeschoben war. Ich fand den Schalter für die Lampe im Hauseingang und öffnete die Tür. Ein kräftig gebauter Mann in Zivil kam über den Plattenweg auf mich zu. Er hatte einen grauen Bürstenschnitt, ein quadratisches Gesicht und ich schätzte ihn auf Mitte sechzig.
    »Ist Dufour tot?«, fragte er.
    »Sie kennen ihn?«
    »Jeder kennt Dufour. Wer sind Sie?«
    »Mein Name ist Max Winter.«
    »Haben Sie irgendetwas angefasst?«
    Ich hob meine Hände mit den Gummihandschuhen. »So wenig wie möglich.«
    »Warum tragen Sie Handschuhe?«
    »Ich hielt es für sinnvoll. Sind Sie von der Polizei?«
    »Mein Name ist Jan Hulst. Bitte lassen Sie mich durch.«
    »Polizei Ede?«
    »Polizei Otterlo.«
    Ich sah seine Reaktion, als ich in meine Tasche griff. Unter den grauen, buschigen Wimpern lagen kühle Augen, hell und wachsam. »Ich habe ein zusätzliches Paar, wenn Sie möchten«, erklärte ich.
    »Ich komme schon zurecht. Wo ist er?«
    »Im Wohnzimmer.«
    Hulst ging an mir vorbei, drückte

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