Rosa
Urlaub, das Wetter ist schön, vielleicht ist er für eine Woche mit Freunden ans Meer oder nach Valkenburg gefahren.«
»Ohne Ihnen oder Betty etwas davon zu erzählen?«
»Galip war ein Jahr völlig abhängig von uns, vor allem von Betty, die hat ihn Tag und Nacht bemuttert. Er ist froh, wieder auf eigenen Beinen zu stehen und sein eigenes Leben führen zu können.«
»Hat er Freunde?«
Sie antwortete mit einem kleinen Lachen. »Natürlich, was dachten Sie denn, er ist ein normaler junger Mann mit Freunden und Kollegen. Kann auch sein, dass er eine neue Freundin hat, das würde ich ihm wünschen.«
»Kennen Sie seine Freunde?«
Sie runzelte die Stirn. »Nein, aber ich verstehe, warum er sie von uns fern hält. Betty und ich erinnern ihn einfach an alles, was geschehen ist, und an sein Herz, dass er vorsichtig sein muss und so, davon hat er die Nase voll. Im Umgang mit anderen kann er das vergessen, sie bedeuten ein normales Leben.«
»Betty sagte, er habe einen Kontrolltermin verpasst.«
Gerda nickte. »Ich kenne seinen Terminplan nicht mehr, er kümmert sich um alles selbst, aber offenbar hätte er am Dienstag zu einer Kontrolle gemusst. Das Krankenhaus hat schon ein paarmal bei mir angerufen und gefragt, ob ich wüsste, wo er sich aufhält.« Wieder seufzte sie. »Ich glaube, diese Kontrollen hängen ihm zum Hals raus, nicht zuletzt, weil sowieso immer alles in Ordnung ist.«
»Aber er würde Sie oder Betty anrufen, wenn etwas nicht in Ordnung wäre, mit seinem Herzen zum Beispiel?«
»Ja, ganz bestimmt«, meinte Gerda. »Wenn so etwas passieren würde, wäre er auf uns angewiesen, und dann hätte er schon längst angerufen. Und wenn nicht, dann hätten wir es schon vom UMC erfahren. Deshalb bin ich der Meinung, dass alles in Ordnung ist und er in einer Woche einfach wieder auftaucht. Das können Sie dieser Dame ausrichten, es kommt schon in Ordnung und er wird sie bestimmt gerne kennen lernen.« Sie lachte wieder. »Ich kenne doch meinen Galip. Er ist ein lieber Junge, aber wenn er irgendwo einen Vorteil für sich wittert, ist er gleich zur Stelle.«
Unerschütterlicher Optimismus. Ich konnte gut verstehen, warum Menschen nach einer Herztransplantation irgendwann genug hatten von den Medikamenten, den Kontrollen und einem streng geregelten Leben, und ich sah es ihren Augen an, dass sie sich an diese Erklärung klammerte. Sie verdrängte ihre Zweifel, redete darüber hinweg. Sie hatte genug Probleme mit ihrem Sohn gehabt und lebte seit zwei Jahren ein normales Leben. Sie wollte nicht zurück.
Doch Victor war nicht am Meer. Er hatte seine Arbeit im Stich gelassen, mit Abraham Kars und Cor van Nool verhandelt, war auf eigene Faust eingebrochen und verschwunden, um die Beute an den Mann zu bringen. Betty hatte ihrer Mutter nichts erzählt, um sie zu schonen, und ich hatte bis auf Weiteres ebenfalls kein Bedürfnis, ihr die Illusionen zu nehmen.
Ich hinterließ ihr meine Visitenkarte mit meinen Telefonnummern. Sie versprach, mich anzurufen, sobald sie etwas von ihrem Sohn hörte.
Es dämmerte, als ich den dichten Verkehr hinter mir gelassen hatte und den Polderdeich hinauffuhr. Ich hatte die Fenster heruntergekurbelt und atmete die heimischen Gerüche ein, links milden Moder und würzigen Schlamm am Lingeufer, rechts den Duft junger Apfel und Birnen in Bokhofs Obstplantagen, saftige Weiden nach Regenschauern. Es war sehr still im Haus ohne Nel und Hanna.
Ich entledigte mich meiner Kleider und schlüpfte in alte Shorts und ein T-Shirt. Ich besitze keinen Jogginganzug, weil ich kein Jogger bin, geschweige denn ein Mensch für Trainingspläne, aber dann und wann laufe ich mir auf der Polderdijk-Runde die Flausen aus dem Kopf. Erst auf dem Radweg an der Landstraße entlang und dann an der Tankstelle vorbei wieder zurück zum Polderdijk. Wenn Nel da ist, kommt sie meistens mit, wegen der Kondition. Wenn wir zu faul sind, fahren wir mit dem Fahrrad.
Ich ließ das Licht auf der Terrasse brennen und spazierte in meinen Turnschuhen den Deich hinauf. Ich bog rechts ab und verfiel in einen Laufschritt, an Nels Heuschober vorbei, auf das Haus der pensionierten Nachbarn und das dunkle Auto zu, das am Straßenrand stand. Es sah neuer aus als meines, wie die meisten BMW.
Alle Deichbewohner besitzen Garagen, meist am Fuße des Deichs. Bei den restaurierten, kostspieligeren Gebäuden wie dem Haus an der Schleuse, in dem früher Ingrid und Peter Bracks wohnten und jetzt das neue Ehepaar aus Den Haag, sind sie ins Haus
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