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Rosen des Lebens

Rosen des Lebens

Titel: Rosen des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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Seelen hatte, als erstes meine Freiheit einschränkte. Allem Anschein nach war diese Herrschaft eine Bühne, auf der ich eine
     bestimmte Person darstellen mußte. Mein Vater hatte mir meine Kleidung vorgeschrieben, und nun diktierte mir Pfarrer Séraphin
     mit allem Respekt die Rolle, die ich bei dieser Messe zu spielen hatte.
    Ehrlich gesagt, hatte ich, als ich als erster den Chor betrat, keine Vorstellung von der »Nuance«, durch die ich die Zeremonie
     des seligen Grafen von Orbieu abwandeln wollte. Und, um es nicht zu verhehlen, mir war die Kehle zugeschnürt wie einem Schauspieler
     beim ersten Auftritt, zumal der Chor zwei Stufen höher lag als das Schiff und glänzend beleuchtet von Kerzen, während die
     Gemeinde, außer der ersten Reihe, im Dunkel versank.
    Leere im Kopf und ein wenig benommen, tat ich alles, was Séraphin mir geraten hatte: Den Kniefall mit gezogenem Hut vorm Altar,
     dann, vor dem bischöflichen Sitz mit dem Baldachin, den Hutschwenk vor dem Wappen der Orbieu, aber kaum hatte ich mich hiernach
     bedeckt, begann mein Geist wieder zu arbeiten. Was für ein Unsinn, dachte ich, das Wappen einer langen Adelslinie, mit der
     ich nichts zu tun hatte, wie meine eigene zu grüßen. Und unter der Eingebung des Augenblicks trat ich zur Gemeinde vor, aber
     bedachtsamen Schrittes, weil ich die Altarstufen nicht sah und nicht ins Leere tappen wollte. In der ersten Reihe erkannte
     ich meinen Vater an dem Kreuz des Ritters vom Heiligen Geist, das auf seiner Brust funkelte. Ich entblößte mich zum drittenmal
     und erwies ihm eine tiefe Verneigung. Für mein Gefühl vervollständigte und korrigierte diese Reverenz die vorhergehende, denn
     nachdem ich der Linie höfliche Ehre erwiesen hatte, deren Namen ich trug, ehrte ich diejenige, der ich entstammte.
    Als ich mich umwandte, um den Bischofssitz einzunehmen, gewahrte ich hinterm Altar den Pfarrer Séraphin und dicht dahinter
     Figulus, erstarrt in der unterwürfigsten Haltung. Auf dem massigen Gesicht Séraphins lag nichts wie der Ernst des Priesteramtes,
     das auszuüben er sich anschickte, doch Figulus sah ein wenig verunsichert aus, vielleicht durch die Verneigung, die ich meinem
     Vater erwiesen hatte. Dieser Mensch |75| hatte übrigens ein sonderbar langes, bleiches Gesicht mit erloschenen Zügen, die mich an eine zerlaufene Kerze gemahnten,
     und wie klagend herabhängende Hundeaugen.
    Die Messe begann und dauerte weit länger, als ich erwartet hatte, denn Séraphin konnte sich vor einem so glanzvollen Auditorium
     nicht enthalten, seinen schönen Baß vorzuführen. Immerhin ließ der lange Gottesdienst mir aber die Muße, verstohlene Blicke
     auf die Versammlung meiner Getreuen zu werfen, meine Augen hatten sich inzwischen an das flimmernde Licht der Kerzen gewöhnt.
     Beiläufig bemerkt, erstaunte mich deren Überfülle – bis Saint-Clair mir am nächsten Tag mitteilte, auf Bitten Séraphins trüge
     ich die Kosten dafür.
    Um es unverblümt zu sagen, diese versammelte Gemeinde stank entsetzlich und ohne daß die Parfüms dem abhelfen konnten, mit
     denen die Damen und Herren der ersten Reihe sich ebenfalls im Übermaß besprüht hatten, im Gegenteil. Nicht minder stark war
     der Kontrast in Wuchs, Breite und Fülle zwischen den Auserwählten der ersten Reihe und den Dorfbewohnern, die sich in den
     Bänken dahinter drückten. Nicht nur kamen sie mir kleiner vor, kränklich und schmächtig, sondern großenteils auch schief und
     krumm und verwachsen. Und die Frauen, die mir weniger zahlreich schienen als die Männer, sahen alle aus wie in graue Säcke
     gehüllt, und ihre Hauben saßen so tief in der Stirn, daß ihre Züge nicht zu erkennen waren. Sehr überraschte mich auch, keinen
     einzigen weißen oder auch nur grauen Kopf zu erblicken und, anders als ich erwartet hatte, kaum Kinder.
    Die Kirche von Orbieu, schon ein gutes Jahrhundert alt, hätte mich durch ihre kraftvolle Schlichtheit entzückt, wäre die Kälte
     nicht so groß gewesen, denn bis ins Mark vereist war ich trotz des Wollhemds, das ich vorsichtigerweise unter mein seidenes
     Wams gezogen hatte. Und ehrlich gestanden, fühlte ich mich bei dieser meiner Inthronisierung sowieso nicht allzu glücklich,
     nicht nur wegen der Kälte, dieser ewigen lateinischen Gesänge und des Gestanks, dem einzig der Weihrauch gewachsen schien,
     den Figulus auf die Holzkohle in seinem Räuchergefäß gestreut hatte. Aber auch dieses Weihrauchgefäß, das Figulus großherzig
     schwenkte, wurde

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