Rosen für eine Leiche (German Edition)
hatte erwartet, dass er
ungemütlich werden würde. Doch er biss sich auf die Unterlippe, verschränkte
wieder die Arme vor der Brust und sah zur Decke.
»Krieg ich ein Bier?«, fragte er mit seiner sanften, halbhohen
Stimme.
»Flasche oder Glas?«, sagte ich.
»Glas«, sagte er.
»Kein Glas in der Zelle«, sagte der Beamte, der die Schlüssel hatte
fallen lassen. Nach einer Weile kam er mit einem Plastikbecher voll Bier
zurück.
»Prost«, sagte Priegel und nickte. Er trank den Becher in einem Zug
leer, stellte ihn vorsichtig, als könne er in Stücke zerplatzen, auf den Tisch
und schaute mich an. »Auf Bettina«, sagte er.
Ich hatte gewonnen, da war ich mir ziemlich sicher. Ich konnte mir
lebhaft vorstellen, wie interessiert Priegel an einer Begegnung mit seiner
Tochter war, die er nur als Kleinkind kannte. Es war eine Frage der Zeit,
vielleicht von Minuten, bis Priegel ein Geständnis abliefern würde.
Bevor ich weiter nachdenken konnte, merkte ich, wie sich etwas in
ihm veränderte, konnte es zunächst aber nicht deuten. Priegels Augen verdrehten
sich, und gleichzeitig, wie in Zeitlupe, sackte der Kopf zur Seite. Er griff
sich mit beiden Händen an den Hals. In seinen Augen war nur mehr Weiß, ich sah
nur Weiß, kein bisschen Hellblau, bis die Lider sich im gleichen Tempo schlossen,
wie der Kopf zur Schulter sank, und der Körper in einer seltsam verdrehten
Bewegung vom Stuhl rutschte.
»Obacht«, hörte ich mich noch sagen.
Dann lag Herbert Priegel am Boden und rührte sich nicht mehr. Der
Gestank seiner Ausscheidungen füllte nach und nach den Raum.
Ein schweres Gewitter ging, nicht gerade typisch für die
Jahreszeit, über Neubeuern schon in der Frühe nieder und verfinsterte Tal,
Himmel und Berge, kaum war es ein wenig hell geworden. Ich stapfte über den
Rasen und beeilte mich, ein paar Blumenkübel unters Dach auf die Terrasse zu
ziehen. Die Verandatür hatte ich hinter mir geschlossen. Drinnen, im
Wohnzimmer, war es dunkel. Das Haus lag still bis auf den Regen, den es
unaufhörlich gegen die Panoramascheibe trieb.
Ich wischte mir die Nässe aus dem Haar und von der Stirn. Was zum
Teufel war im Augenblick am wichtigsten? Pauli weiter hinter Lola herspionieren
zu lassen und wofür? Den Spuren im Bellini-Fall hinterherhecheln? Abwarten, bis
Priegel wieder vernehmungsfähig war? Meine sich anbahnende Sucht nach Chili
bekämpfen? Den angekündigten Besuch ihres Vaters vorzubereiten helfen? Sollte
ich Herrn Huber kastrieren lassen, weil er neuerdings immer ausriss? Wurde ich
tatsächlich nur alt und vertrug solche Anforderungen nicht mehr so wie früher?
Der Spruch unseres Dorfpfarrers vom letzten Skatabend fiel mir ein.
»Alter spielt sich im Kopf ab, nicht im Körper«, hatte Rudi gepredigt.
Ich machte Licht im Wohnzimmer, rückte den Tisch unter den Leuchter
und blätterte zum x-ten Mal in Christnachts dünnem grünem Ordner. Wenn
Christnacht Kunde des ermordeten Callgirls Nadine alias Helen Esterding gewesen
war, dann war dies ein weiterer Verknüpfungspunkt zwischen den beiden Fällen.
Doch mir fehlten weitere Fakten. Mit reiner Logik kam ich vorerst nicht weiter.
Ich wollte den Ordner schon zuklappen, da sprang mir etwas ins Auge,
was mein Herz schneller schlagen ließ. Ich verfluchte die mangelnde Sehschärfe
meiner Augen, die mich bei dürftiger Beleuchtung immer öfter im Stich ließen.
Den groß geschriebenen Namen » NADINE « auf dem Blatt
vom 20. April,
dem Ostersonntag, und auf dem vom 13. Mai
konnte ich sehr gut lesen. Das Gekritzel auf der Rückseite der beiden Blätter
aber, sehr klein geschrieben und ganz unten, hatte ich bisher übersehen.
» H 60 M «
stand da am Ostersonntag und » H 55 M « am 13. Mai.
Was war mit diesen Kürzeln gemeint?
An diesem Tag hatte ich große Mühe, den Tisch für den abendlichen
Skat herzurichten. Wenigstens sollten sich meine Freunde nicht über mangelnde
Zuwendung beklagen können.
»Da läuft so ein Gerücht um, euer Mörder hat den Löffel
weggelegt«, sprach mich Karl, der Pionierkommandeur, am selben Abend an.
Wir saßen zu viert um den Skattisch. Einer musste in jeder Runde
aussetzen.
»Freilich«, warf Rudi ein, »Gerüchte sind schließlich viel
interessanter als die Wahrheit.«
»Nur nicht in der Kriminalistik«, sagte ich.
»Also sag’s«, sagte Uwe, der Kirchenmaler, und begann die Karten für
eine neue Runde zu mischen. »Ich hab gehört, du bist da auch noch beteiligt in
dem Spiel. Die Presse mischt ja gewaltig mit.
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