Rosenberg, Joel - Hüter der Flamme 05
Balkon.
Jason schob den Dolch wieder in den Gürtel und schnürte ihn fest.
Auf Zehenspitzen trat er an die Seite der Glastüren, wo der Vorhang nicht ganz zugezogen war. Durch die Tür des Zimmers hinter der regennassen Scheibe fiel Licht von dem hellerleuchteten Gang. Er konnte vier dicht nebeneinanderstehende Schlafpritschen erkennen, von denen zwei besetzt waren, außerdem einen Ständer mit acht Gewehren neben der Tür. Ohne Zweifel handelte es sich hier um den Schlafraum von wenigstens acht Gildemännern. Diese Zahl multipliziert mit den sechs weiteren Balkonzimmern des Gasthauses brachte ihn zu der Vermutung, daß sich mindestens fünfzig Gildesoldaten allein in dem Silbernen Pilz aufhielten.
Als nächstes ...
Ein Knarren in dem Zimmer ließ ihn erstarren. Seine Hand fiel auf den Dolchgriff, aber das war Blödsinn. Er konnte den Dolch nicht ins Spiel bringen, ohne sich zu verraten.
Er lehnte sich an die Mauer neben der Tür und wickelte die zwei hölzernen Griffe der Garrotte von seinem Gürtel. Der Gedanke, wieder töten zu müssen, verursachte ihm ein flaues Gefühl im Magen, doch wenn die Tür sich öffnete, blieb ihm nichts anderes übrig. Die Schnur aus gedrehter Sehne über den Hals des Opfers zu streifen, die Griffe überkreuzen, ziehen, den Leichnam zu Boden gleiten lassen und nichts wie weg.
Seine Hände krampften sich um die Griffe, während er den leisen Stimmen in dem Zimmer lauschte. Bruchstücke der Unterhaltung konnte er verstehen: »Du bist dran ... diesmal wach ... klar, wenn's nicht regnet.«
Er legte das Ohr an den Türrahmen und hörte, wie sich jemand anzog und mit schweren Schritten den
Raum verließ, während jemand anders sich auskleidete und die Stiefel polternd zu Boden fallen ließ.
Es folgte das dumpfe Geräusch, mit dem jemand sich todmüde auf eine Pritsche fallen ließ. Jason wartete, bis er gleichmäßiges Schnarchen hörte, bevor er mit äußerster Vorsicht am Spalier zu Boden kletterte. Der Regen war immer noch so heftig, daß er sich elend fühlte.
Die Ställe gegenüber dem Gasthaus waren sein nächstes Ziel. Es standen nur zwanzig Pferde in den Boxen, was mit seiner Schätzung von fünfzig Gildesoldaten in den Zimmern nicht übereinstimmte. Doch so war es nun einmal: zwanzig Pferde und ein betrunkener Stallbursche, der auf dem Heuboden seinen Rausch ausschlief.
Als nächstes wollte er sich das Gildehaus vornehmen und da war äußerste Vorsicht geboten. Die Straße konnte er nicht benutzen; wenn die Sklavenhändler dort Wachen aufgestellt hatten, mußten sie ihn unfehlbar entdecken.
Folglich wich er auf die Zufahrtswege hinter den Häusern aus. Sie waren matschig, aber dort gab es bessere Möglichkeiten, sich zu verstecken.
Diese ganze Angelegenheit war ungemütlich und langweilig, und wo sie nicht langweilig war, wurde sie gefährlich. Etwas Glitschiges, das in dem Morast hinter einem der Häuser auf der Lauer gelegen hatte, zog ihm ein Bein unter dem Leib weg, er fiel rücklings zu Boden und spürte einen spitzen Gegenstand genau unter dem rechten Schulterblatt in seinen Rücken stechen.
Er griff mit der linken Hand unter der Achsel hindurch und zog einen fingerlangen Splitter aus seinem Fleisch. Die Stelle, wo er eingedrungen war, schmerzte teuflisch. Er hatte eine kleine Metallflasche mit Heiltrank in seiner Gürteltasche, aber den wollte er nicht für unbedeutende Verletzungen verschwenden, sondern für wirklich gefährliche Wunden aufsparen.
In dem Maße, wie der Wind kälter wurde, nahm der Regen ab, und von einer kleinen Erhebung aus konnte er weit entfernt durch ein Loch in der Wolkendecke sogar die Sterne leuchten sehen. Wenn er noch das Gildehaus der Sklavenhändler überprüfen wollte, mußte er sich beeilen.
Während er im Windschatten der Mauer um das Gildehaus stand, kam ihm der Gedanke, daß es im Landesinneren von Salket seit langer Zeit keine bewaffneten Auseinandersetzungen mehr gegeben haben konnte. Sobald man sich weit genug vom Hafen entfernte, machten die Häuser den Eindruck, mehr auf Bequemlichkeit ausgerichtet zu sein als auf Sicherheit. Sie hatten zahlreiche Fenster, wenn auch oft vergittert, und nur selten waren sie von einer Schutzmauer umgeben. Während die Behausungen der Armen wie fast überall aus mit Lehm bestrichenem Weidengeflecht bestanden, verwendeten die Reichen zum Häuserbau Ziegel statt der früher üblichen Steinblöcke.
Das Gildehaus der Sklavenhändler bildete allerdings eine Ausnahme, wie auch die Gebäude links
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