Rosengift - Die Arena-Thriller
bei Tante Helen eingezogen war, war sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, um sich über Miguels Empfindungen Gedanken zu machen. Die ersten Wochen hatte sie sich in einem zombiehaften Zustand befunden, hatte viel Geige gespielt und ansonsten irgendwie funktioniert. Helen hatte darauf bestanden, dass Matilda einmal in der Woche zu einer Psychologin ging. Matilda hatte das zunächst abgelehnt mit dem Hinweis, sie wäre schließlich nicht verrückt. Aber Helen war hartnäckig geblieben. »Wenigstens ein halbes Jahr lang.« Und so hatte Matilda sechs Monate lang jede Woche eine Stunde in der Praxis von Frau Dr. Hoßbach, einer molligen Mittdreißigerin, verbracht. Es wurde über alles Mögliche gesprochen – die Schule, Filme, Bücher, das Geigespielen, ihre Ängste, ihre Wünsche und ab und zu auch über ihre Eltern. Wider Erwarten hatten Matilda diese Gespräche geholfen, sich mit dem, was passiert war, allmählich abzufinden. Als das vereinbarte halbe Jahr vorbei war, hatte Matilda es fast ein wenig bedauert.
Wieso musste sie gerade jetzt an Frau Dr. Hoßbach denken? Vielleicht, weil sie sich daran erinnerte, dass es in einer der Stunden auch um Miguel gegangen war. Frau Dr. Hoßbach hatte wissen wollen, wie Matilda sich mit ihrem Cousin verstand, und Matilda hatte nachgedacht und dann festgestellt, dass sie in Miguel eine Art großen Bruder sah, wie sie ihn sich früher als Kind oft gewünscht hatte. Die Psychologin hatte daraufhin geantwortet, es wäre zwar schön, dass sie Miguel so sah, aber Matilda dürfe nicht zwangsläufig davon ausgehen, dass sich auch Miguel eine kleine Schwester wünschte. Sie müsse ihm seinen Freiraum lassen und dürfe sich ihm nicht aufdrängen.
»Miguel war jedenfalls von Anfang an nett zu mir«, sagte sie nun zu Christopher. »Er hat sogar sein Zimmer für mich aufgegeben und ist unters Dach gezogen, mit seinem ganzen Computerkram und den Pflanzen.«
»Pflanzen?« Christopher zog interessiert die Augenbrauen hoch.
»Ganz normale Zimmerpflanzen. Orchideen und so was.« Matilda musste sich im Stillen eingestehen, dass sie da gar nicht so sicher war. Wann war sie zuletzt in Miguels Zimmer gewesen? Es musste Monate her sein. Aber Helens Toleranz würde sicherlich nicht so weit gehen, dass sie eine Hanfplantage in ihrem Haus duldete.
»Und Juliane? Wie findest du die so?«, fragte Matilda.
»Sie passt zu Miguel«, entgegnete Christopher, was immer das heißen mochte.
»Kennst du sie auch schon länger?«, forschte Matilda. Noch immer spukte ihr Julianes Warnung, was Christophers Einstellung zu Treue anging, im Kopf herum.
»Lauren und Juliane sind befreundet. Und ’ne Weile hat sie mal bei uns in der WG gewohnt. Aber nur für ein paar Wochen.« Christopher rückte ein bisschen näher an sie heran. Ihre Unterarme berührten sich, es kribbelte, als liefe eine ganze Ameisenkolonie Matildas Arm hinauf.
»Kannst du ein kleines Geheimnis für dich behalten?«, fragte Christopher.
»Klar.«
»Juliane ist vor gut einem Jahr, kaum dass sie den Führerschein bestanden hatte, völlig zugedröhnt mit neunzig Sachen über eine rote Ampel gedonnert und hat dabei noch ein Verkehrsschild mitgenommen. Dummerweise war eine Streife in der Nähe. Das war’s dann erst mal mit dem Führerschein.«
»War sie betrunken?«
»Nein. Auf Ex oder Speed oder weiß der Teufel, was sie eingeworfen hatte.« Er zuckte die Schultern. »Na ja, sie hat es ja auch nicht leicht. Ihre Mutter hat Alzheimer, musste in ein Pflegeheim, so was kann einen schon aus der Bahn werfen.«
»War Miguel damals schon mit Juliane zusammen?«
»Keine Ahnung. Bei Juliane weiß man nie so genau, mit wem die gerade zusammen ist und mit wem nicht. Die sieht das nicht so eng.«
Beinahe hätte Matilda bei dieser Bemerkung laut aufgelacht, aber sie beherrschte sich und fragte stattdessen: »Hattest du schon mal was mit ihr?«
Christopher sah sie erstaunt an. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, danke. Als sie in unserer WG gewohnt hat, war sie ziemlich hinter mir her. Aber sie hat mich schon damals nicht interessiert und das hab ich ihr auch deutlich zu verstehen gegeben. Seitdem ist sie ein bisschen sauer auf mich, schätze ich.«
Matilda löffelte die letzten Reste Eis aus dem Glas. Deshalb also redete Juliane dummes Zeug über Christopher. Ab sofort würde Matilda ihr kein Wort mehr glauben, das sie über ihn verlor. Sie würde überhaupt nicht mehr mit Juliane über Christopher reden.
»Aber inzwischen ist sie echt
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