Rosenrot
Rudhagen sind in der Regel eine triste Lektüre. Denkbar schlimmste Trockenprosa. Exakte Zeitpunkte der Toilettenbesuche, Nahrungs- und Flüssigkeits-
aufnähme, Urinproben, Telefonate, Besuche (in beiden Fällen keine), Medikamentierung und Schlafzeiten. In Lundmarks Krankenakte wird sogar ein paar mal der Name ›Kerstin‹ erwähnt. Doch nur im Winter, während der akuten Behandlungsphase. Lundmarks Zustand ist betrüblich, seine Äußerungen sind, gelinde gesagt, verwirrend. Aber ›Kerstin‹ wird häufig im Zusammenhang mit Treulosigkeit erwähnt. Dann, als die Medikamente richtig wirken und die Therapiegespräche zusammenhängender werden, fällt der Name überhaupt nicht. Der Therapeut versucht dann und wann auf diesen Namen zurückzukommen, der in akuten Abstinenzzuständen geäußert wurde, aber ohne jeden Erfolg. Es ist Februar, März. Die Therapiesitzungen sind total nichtssagend. Es wird eigentlich ausschließlich über Alkohol gesprochen.
Interessant ist, dass Lundmark im März wie ein Besessener die Bibel zu lesen beginnt. Die Ärzte sehen das positiv. Die Behandlung führt offenbar in die richtige Richtung. Vermutlich fängt Dag Lundmark an, über seine Schuld nachzudenken. So argumentiert man. Am vierundzwanzigsten März kommt Ola Ragnarsson mit einer tiefen Depression nach Rudhagen. Als er im April aus der depressiven Phase herauszukommen beginnt, tritt er in engeren Kontakt zu Lundmark. In beider Krankenakte wird das Verhältnis als positiv beschrieben. Sie unterhalten sich viel. Beide scheinen davon zu profitieren. Aber an einem Tag gibt es eine Abweichung. Viggo, die Akte hast du.«
Viggo Norlander schaute in seine Papiere und sagte: »Es ist zehn nach fünf am vierzehnten April. Lundmarks Akte sagt: ›Nachdem Pat. den Nachmittag im gewohnten Gespräch mit Pat. Ola Ragnarsson verbracht hat, kommt es zu einem Vorfall, der erwähnt werden muss. Fehlmedikation, wie zunächst angenommen, ist ausgeschlossen. Die beiden Pat. sitzen in der Bibliothek und unterhalten sich. Pat. Lundmark hat die aufgeschlagene Bibel vor sich. Plötzlich steht er auf, völlig weiß im Gesicht, und schleudert die Bibel ins Bücherregal. Die Bücher fallen auf den Fußboden. Ragnarsson hält sich die Ohren zu und schreit. Pat. Lundmark wütet wie ein Berserker, reißt Bücher aus den Regalen und wirft sie um sich. Pers. drückt ihn zu Boden. Vier Pers. erforderlich. Sedative werden injiziert. Pat. wird isoliert. Bei späteren Versuchen, Pat. über den Ausbruch zu befragen, schweigt dieser beharrlich. Versuchsweise darf er einige Tage später wieder in die Nähe von Pat. Ola Ragnarsson, unter strenger Bewachung. Pat. Ragnarsson anfänglich abwartend, ängstlich, doch das Verhältnis normalisiert sich wieder. Von da an bis zu Pat. Ragnarssons Entlassung nach Hause am 5.5. sind sie täglich zusammen.‹«
»Was ist das?« fragte Söderstedt rhetorisch. »Ein Anfall erster Güte. Offenbar lässt etwas, was Ragnarsson gesagt hat, Lundmark explodieren. Doch der Zorn richtet sich nicht gegen Ragnarsson. Der Zorn ist blind ins Leere gerichtet. Dann sind sie wieder täglich zusammen. Kann man vermuten, dass dies der Zeitpunkt ist, an dem der ›andere Plan‹ Form anzunehmen beginnt? Mitte April?«
»Was er von Ragnarsson erfährt, ist der Schlüssel«, sagte Viggo Norlander. Die Frage ist, ob sich in Ragnarssons sogenanntem Selbstmordbrief eine Spur davon findet. Das ist die einzige Spur, die wir haben.«
Es herrschte Stille in der Kampfleitzentrale. Eine merkwürdige Stille. Die Lösung schwebte zwischen ihnen, ungreifbar, aber gegenwärtig.
»Wir müssten sie sehen«, sagte Paul Hjelm.
35
Paul Hjelm kehrte in sein Zimmer zurück. Er setzte sich und rieb sich die Stirn. Er stellte das Verhör mit Lundmark am Computer an. Der Film lief und Lundmark redete im Hintergrund.
Er stand auf und ging im Zimmer hin und her. Langsam begann etwas, in ihm Form anzunehmen. Er ließ ihm Zeit, Form anzunehmen. Zwischendurch trat er an den Bildschirm. Dag Lundmark saß da und war betont lässig. Seine Antworten waren so absichtlich nichtssagend.
Er ging hinüber zu Kerstins Platz und durchwühlte ihre Schubladen. Er hatte es schon mehrfach getan. Es gab nichts, was er nicht bereits kannte. Er blieb stehen.
Verdammt.
Wohin sollte er gehen? Was sollte er noch anstellen?
Kerstin musste herausgefunden haben, wo Lundmark war. Als sie Brynolf Svenhagens Analyse des Zettels aus Schonen bekam, wusste sie bereits, wohin sie fahren musste.
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