Rosenrot
einen Treulosen hoffen zur Zeit der Not, das ist wie ein fauler Zahn und strauchelnder Fuß. Wer einem missmutigen Herzen Lieder singt, das ist, wie wenn einer das Kleid ablegt an einem kalten Tag, und wie Essig in Wunden. Hungert dein Feind, so speise ihn mit Brot, dürstet ihn, so tränke ihn mit Wasser, denn du wirst feurige Kohlen auf sein Haupt häufen, und der Herr wird dir‘s vergelten.‹«
»Das kenne ich«, sagte Hultin. »Das mit den feurigen Kohlen auf seinem Haupt.«
Chavez nickte und sagte: »Sprüche 25, Verse 19 bis 22. Näher kommen wir im Alten Testament der Versöhnung nicht, aber es ist Versöhnung als Rache. Das ist ziemlich sonderbar. Man kann sich in der Stunde der Not auf den Treulosen nicht verlassen, er ist wie ein fauler Zahn und ein strauchelnder Fuß.
Dann ändert sich die Perspektive. Für ein missmutiges Herz zu singen ist wie Essig in Wunden zu gießen. Das ist richtig verzwickt. Er singt für das missmutige Herz, das wohl auch das treulose Herz ist, aber es wirkt wie Essig in Wunden. Der Gesang tut weh. Und er fährt fort damit, dem hungrigen und durstigen Feind Brot und Wasser zu geben. Auch dieser Gunsterweis hat die gleiche Wirkung: Essig in Wunden und glühende Kohlen aufs Haupt. Wenn man für den Treulosen singt und ihm Wasser und Brot gibt, tut es dem Treulosen richtig weh. Die Kohle brennt sich ins Gehirn ein, und der Sänger bekommt seinen Lohn von Gott. Dag Lundmark ist nicht mehr der alttestamentarische Gott, der ständig im Zorn vernichten muss. Statt dessen tut er Gutes, er singt für das missmutige Herz, er sättigt den hungrigen Treulosen, er löscht seinen Durst.«
»Nicht seinen«, sagte Paul Hjelm, der bleich aussah.
»Was?« sagte Chavez.
»Nicht seinen. Ihren. Es geht um Kerstin. Sie ist die einzige, die ihn verlassen hat. Sie ist die, die treulos war.«
Die A-Gruppe betrachtete ihn geschlossen. Er hatte das Gefühl, als sähe Kerstin ihn von irgendwo an. Ihr Blick sang: ›Wenn es passiert, dann lasse mich nicht im Stich.‹
Und es war wie Essig in seiner Wunde.
»Was ist das für ein ›Gesang‹?« fragte Hultin. »Und warum brennt er in ihren Wunden?«
»Das ist die Kernfrage«, sagte Paul Hjelm. »Uns entgeht etwas. Wir denken an Kerstin, wie sie heute ist, an die Kerstin, die wir kennen. Aber niemand ist immer derselbe gewesen. Wir verändern uns die ganze Zeit, auch ich. Auch du, Jan-Olov. Irgendwo in Dags und Kerstins gemeinsamer Vergangenheit gibt es ein Loch, eine Finsternis. Das ist der Grund, warum sie noch immer ihren Verlobungsring trägt.«
Hultin überging die Beleidigung, ohne eine Miene zu verziehen.
Hjelm konnte weitermachen: »In Max Sjöbergs Brieftasche
fand sich auch ein Bibelzitat. Sara und ich haben es gestern mit freundlicher Hilfe Brynolfs entziffert. Es ist eine direkt an Kerstin gerichtete Mitteilung, die gleichen Worte, die er sagte, als er 1992 auf dem Fußboden in einer Kneipe niederkniete und ihr den Verlobungsring überreichte. Das Hohelied, Kapitel 8, Verse 6 und 7.
In ihrem Verlobungsring sind die Worte ›Auch viele Wasser löschen die Liebe nicht‹ eingraviert. Das ist eine Art verkappte Drohung: Du wirst nie von mir loskommen. Die größten Wasser können das Band zwischen uns nie auslöschen.«
»In einer anderen Übersetzung heißt es aber auch, man dürfe den nicht gering achten, der für die Liebe all seinen Besitz gibt«, sagte Chavez.
»Das macht es etwas deutlicher«, sagte Hjelm. »Und vielleicht ist das der Kernpunkt. Dag Lundmark gibt alles für die Liebe, und können wir ihn dafür gering achten?«
»Wenn er deswegen eine verdammte Menge Leute umbringt, können wir schon«, sagte Hultin.
»Trotzdem stimmt da etwas nicht«, sagte Sara Svenhagen. »Ich habe mir gestern das Verhör mit ihm angesehen, ganz genau, mit Anhalten und Standbildern und allem. Wenn da irgendwo eine kleine Spur von Liebe zu Kerstin war, dann hat er sie mächtig gut versteckt.«
»Dennoch betreibt er irgendeine Form von seelischer Erpressung«, sagte Hjelm. Was verdammt sollte der Zettel in Sjöbergs Brieftasche? Was haben die Sjöbergs in Schonen überhaupt mit der Sache zu tun? Der Zettel steckte da, damit Kerstin den Zusammenhang begreifen sollte. Das ist ein Teil von Dag Lundmarks Gesang, den er für sie und sonst niemand singt, der wie Essig ins Blut und wie glühende Kohlen auf den Kopf ist. Wahrscheinlich hat sie begriffen.«
»Hier kommen wir ins Bild«, sagte Arto Söderstedt. »Die Krankenakten in der Klinik
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