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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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Wurfobjekts bei flachem Untergrund:
die y-Achse neun Komma acht Meter in der Sekunde zum Quadrat, die x-Achse
gleich null, die Anfangsfluggeschwindigkeit bei fünfundzwanzig Metern pro
Sekunde, Abwurfwinkel fünfzehn Grad. Voraussetzung kein Luftwiderstand. Weitere
Voraussetzung, der Flug wird nicht von einem Männerkopf gebremst.
    Du wirst verrückt, dachte er. Junger Mann, Sie stöpseln Wissenschaft
hier in das Loch, das Gott gelassen hat. Wo deine Mutter eher das umgekehrte
Problem hatte: Stöpselte Gott in ein Loch, das … wer gelassen hatte? Das
Geheimnis nahm sie mit sich. Zog die nächste Welt dem Diesseits vor. Ein
kleiner Makel ihres Plans – wo ist sie jetzt? In absoluter Dunkelheit. Falls so
die Nichtexistenz ist.
    Er blieb dort lange liegen und betrachtete die Bäume, die vorbeirauschten,
er hatte Angst, die Augen zu berühren und womöglich Dreck da reinzureiben.
Weitermachen, dachte er, wasch dir die Augen aus. Und draußen war es jetzt
stockdunkel.

4 . Harris
    Glen Patackis Anruf war zur Mittagszeit gekommen. »Bud, hier
Glen Patacki, lang nicht mehr gesehen. Wollen wir heut Nachmittag ein Glas auf
meinem Boot trinken?«
    Glen, zwanzig Jahre älter als Bud Harris, war der Friedensrichter
von Buell, der letztes Mal ein gutes Wort für Billy Poe eingelegt hatte.
Während Harris Sergeant war, hatte die meiste Zeit Patacki den Chief-Posten
ausgefüllt, und ihn hatte er fast als Ersten kennengelernt, als er nach Buell
gezogen war. Das war der erste nicht-dienstliche Anruf von Patacki seit acht
oder neun Monaten. Dieses Timing ist kein Zufall, dachte Harris.
    Wenn man die steilen Hügel rauf und runter fuhr, zwischen den
Wäldern und bestellten Feldern, jähen Schluchten oder Tälern, wo so viel
verborgen lag, dann konnte man zur höchsten Panoramastraße in der Gegend kommen
und sah immer noch nicht mal die Hälfte dessen, was vor einem lag, so in sich
eingefaltet war das Land. Überall Grün und Sümpfe in der Ebene.
    Ho hatte ihm die Morgenzeitung auf den Schreibtisch gelegt, Billy
Poe war auf der Titelseite abgebildet, die ideale Story für die Zeitung,
Footballstar wird Mörder. So eine Geschichte wollten alle Leute lesen, ja, sie
konnten gar nicht anders. Bis heut Abend, tippte er, würde es kaum wen in
Buell, wenn nicht im ganzen Mon-Tal geben, der sie nicht gesehen oder was davon
gehört hatte.
    Er schaltete herunter in den dritten Gang, damit die Bremsen auf dem
langen Stück bergab nicht heißliefen. Er konnte sich noch gut daran erinnern,
als er bis zur Rente noch zehn Jahre vor sich hatte, mittlerweile war er da bei
achtzehn Monaten. Der Countdown für das Ende deines Lebens. In der Hoffnung,
allesmöge schneller an dir vorbeiziehen. Ob wohl jeder Mensch so war,
dachte er, ob wohl, sagen wir, die Ärzte oder Rechtsanwälte auch so dachten. Er
war vierundfünfzig, schon mit vierzig war er Chief geworden, in der ganzen Stadtgeschichte
klar als Jüngster, selbst im ganzen Tal, Don Cunko hatte damals seine Wahl
unterstützt, und von Leuten wie Patacki war zusätzlich Rückenwind gekommen.
Damals gab es vierzehn Vollzeitstellen und vielleicht sechs Teilzeitkräfte.
Mittlerweile hatten sich die Zahlen umgekehrt.
    Bud Harris war mit neunzehn Jahren schon zu den Marines gegangen,
gab Gesetzeshüter als Spezialisierungswunsch an und befand sich fünfunddreißig
Jahre später in der Lage, dass er die Entscheidung, die er einst als junger
Mann getroffen hatte, aussaß. Ich genieße dieses Leben, dachte er. Es ist schon
Arbeit, über etwas glücklich zu sein. Das hat sie dir
beigebracht. Vielleicht bedeutete die Tatsache, dass man fürs Glücklichsein
arbeiten musste, dass es kein naturgegebener Zustand war. Aber für ihn gab’s
keine Ausflüchte mehr. Ab einem gewissen Lebensstandard, so wie er ihn hatte,
musste man sich einfach jeden Morgen neu entscheiden. Wird das heut ein
glücklicher Tag oder eher ein trauriger? Hör dir bloß diesen Müll an, dachte
er. Das kannst du höchstens deinem Hund erzählen.
    Harris konnte sich vorstellen, Grace zu folgen, bis er alt geworden
war vom Wandern, und er wusste, das könnte er ganz bequem finden. Nie nah
genug, um sich so richtig zu verbrennen oder etwas zu verlieren. So dass sie
stets einen Hügel Abstand hatte. Das Gefühl für sie würde verhindern, dass er
jemals eine andere fand. Auf ihre Weise war sie schon sein Ruhepol.
    Sie konnte nichts dafür, dass so ein Mensch wie Billy von ihr abhängig
war; es hatte sie wirklich viel gekostet. Sei mal nicht zu

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