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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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Grace wollte ihr Leben mit ein bisschen Würde leben, anders als
ihre Mutter. Dazu zählte nicht, für fünffünfzehn die Stunde von Teenagern
herumkommandiert zu werden und nach altem Fett stinkend nach Haus zu kommen.
Das war nicht zu viel verlangt – ein Leben mit ein bisschen Würde. Und
ansonsten nahm sie nicht viel Platz weg.
    Sie kam am Fluss entlang nach Brownsville rein, die Straße kletterte
bergauf, vorbei an Brücken, und dann war sie in der Innenstadt. Parkplätze gab
es überall. Das war früher eine aufstrebende Stadt gewesen, jetzt war sie zum
größten Teil verlassen, neunstöckige Hochhäuser voller Büros, Hotels, allesamt
leer, und Stein wie Backstein dunkel rußbefleckt. Die Innenstadt verströmte
etwas Europäisches, zumindest nach den Reportagen, die sie oft im Fernsehen
schaute – enge Kopfsteinpflasterstraßen, die sich auf und ab schlängelten und
rasch zwischen den Gebäuden verschwanden. Das gefiel ihr. Auf dem steilen Weg
zum alten Lagerhaus kam sie vorbei an dem Flatiron-Haus, das wirklich wie ein
Bügeleisen aussah, und es trug ein Denkmalschild, sie wusste, dass in New York
noch so eines stand, von dem sie annahm, dass es nicht leer war.
    Schon um ein Uhr schmerzten ihr die Hände so sehr, dass sie
wusste, jetzt war erst mal Schluss. Mein Gott, es ist doch Samstag, dachte sie,
was machen wir hier überhaupt. Wie immer wurde sie von Schuldgefühlen geplagt,
und sie arbeitete etwas länger, mehr als richtig war, so lange, bis die beiden
langen Säume an dem Kleid, das sie für eine Braut in Philadelphia herstellte,
fertig waren. Dieses Kleid sollte viertausend Dollar kosten, das entsprach der
Hypothek auf Graces Trailer für ein ganzes Jahr. Nervös ging sie quer durch die
Arbeitshalle, um Steiner Bescheid zu sagen, und wie manchmal hatte sie auch
heute das Gefühl, er würde ihr gleich sagen, dass sie gar nicht wiederkommen
bräuchte. Aber Steiner, dünn und unpassend gebräunt in seinem Golfhemd, die
paar weißen Haare, die noch da waren, quer über seinen Schädel gekämmt –
Steiner sah von seinem Schreibtisch auf und lächelte und sagte: »Gute
Besserung, und danke, Gracie, dass Sie hergekommen sind.« Er war nicht böse. Er
war glücklich, dass sie alle auch am Wochenende hergekommen waren, um den
Rückstau abzubauen. Und ihm weiterhin zu helfen, dass er Geld verdiente, dachte
sie.
    Als sie zurückging durch die Arbeitshalle, dachte sie schon an das
heiße Handtuch, das sie sich zu Hause um die Hände wickeln würde, und wie gut
sich das anfühlen würde, und ihr Körper fing vor lauter Vorfreude schon zu
entspannen an, und plötzlich dachte sie: So ist das mit dem Altwerden, nicht
aufs Vergnügen freust du dich, sondern aufs Nachlassen der Schmerzen. Sie
verabschiedete sich von dem guten Dutzend Frauen an den Werkbänken der alten,
offenen Fabrikhalle mit ihren Backsteinwänden, die, weil’s sauberer wirkte,
weiß gestrichen waren, es war viel mehr Raum, als sie benötigten, und kalt
war’s, alle hatten Heizlüfter unter den Bänken laufen. Sie verarbeiteten teure
Stoffe, nein, hier wurden keine Jeans genäht; nur Jenna Herrin und Viola Graff
hoben den Blick, um tschüss zu sagen, andere nickten oder winkten mit dem
kleinen Finger. Alle wussten, was die Kleider kosteten, aber davon zu reden
half ja auch nichts; denndas meiste, was sie machten, konnte für ein paar
Dollar pro Tag genauso gut in Südamerika gemacht werden. Nicht in derselben
Qualität, aber fast. Es war so, dass Steiner viel zu alt und faul war, um da
unten etwas aufzubauen.
    Sie fuhr mit dem Frachtaufzug hinunter und ging durch die schmale
Straße, die im permanenten Schatten der hohen, leeren Gebäude lag, erst dann
gelangte sie ins Sonnenlicht. Und als sie oben auf dem Kopfsteinpflasterhügel
angelangt war, wo ihr Auto stand, da war sie außer Atem. Von dort gab es eine
weite Aussicht übers ganze Tal, das grün und voll aussah, die Schlucht, den
Fluss, der sich in blanke Felsenklippen eingeschnitten hatte. Grace blieb noch
ein bisschen stehen und beobachtete einen langen Schubverbund, zwölf oder
vierzehn Lastkähne, der unter den zwei hohen Brücken durch die Schlucht fuhr.
Welch ein wunderschöner Ort zum Leben. Aber davon konnte sie sich auch nichts
kaufen, zudem konnte Steiner morgen schon beschließen, mit der Firma ganz
woanders hinzuziehen.
    Letztes Jahr hatte sie sich mal an der Universität am anderen Flussufer
in California umgeschaut und sich beraten lassen, für den Bachelor müsste sie
vier

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