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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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Jahre einrechnen, hieß es, wenn sie abends kam, zwei Kurse pro Semester,
und sie war sich nicht mal sicher, ob das für sie machbar wäre. Und die
Studiengebühren? Darlehen bekam man nur, wenn man auch Vollzeit hinging, und
schon jetzt war sie mit ihren Rechnungen im Rückstand. Komm, vergiss es, dachte
sie. Sei lieber glücklich.
    Sie stieg in ihr Auto und war schnell aus Brownsville raus und durch
die kurvenreichen Wälder, die Brownsville von Buell trennten. Unterwegs kam sie
an einem großen Schwarzbären vorbei, der oberhalb der Straße auf dem Hügelkamm
stand und sein dichtes, glänzendes Frühjahrsfell zeigte. Träge sah er sie
vorbeifahren. Die Bären waren wieder auf dem Vormarsch, keine Frage, wie auch
die Kojoten und die Hirsche. Ungefähr die Einzigen, die hier gediehen.
    Als sie Buell mit seiner weiten Flussaue erreichte, wo ein paarder alten Stahlwerke noch standen, kam sie an dem Haus vorbei, in dem sie
aufgewachsen war, es lag verlassen da, die Fenster waren eingeschlagen und die
Ziegel vom Dach geweht. Sie konnte gar nicht hinsehen. Sie wusste noch, wie’s
war, sobald es pfiff und durch den Schichtwechsel die Straßen übervoll waren
mit Männern, ihren Frauen, anderen Arbeitern, vor zwanzig Jahren war Buell noch
voller Leben gewesen, schier unvorstellbar, nicht zu fassen, wie schnell so ein
Ort herunterzuwirtschaften war. Als Teenager, da wusste sie genau, sie wollte
weg aus diesem Tal, sie wollte nicht als die Frau eines Stahlarbeiters enden –
sondern wegziehen, nach Pittsburgh oder noch weiter. Als Kind erlebte sie es
manchmal, dass die Luft, wenn sie aus der Schule nach Hause kam, so voll Ruß
hing, dass die Scheinwerfer der Autos eingeschaltet waren und die
Straßenlaternen genauso, und das mittags. Manchmal konnte man unmöglich Wäsche
draußen aufhängen, so dreckig kam sie nachher von der Leine runter.
    Ja, sie hatte immer vorgehabt, hier fortzugehen. Aber als sie achtzehn
war und nach der Abschlussfeier ihrer Highschool heimkam, fand sie in der
Einfahrt einen neuen Pinto und ein Heft mit Lohnscheckquittungen vor. Wessen
Auto ist das, fragte sie ihren Vater. Deines, Grace, sagte er. Montag fängst du
bei Penn Steel an. Bring dein Zeugnis mit.
    Ob damals oder heute, dachte sie, warum entscheiden eigentlich
Männer die halbe Zeit für dich? Sie hatte ein Jahr in der Walzanlage
durchgehalten, und dort lernte sie auch Virgil kennen. Danach war sie
schwanger, und es wurde bald geheiratet. Halb fragte sie sich, ob sie’s nur
getan hatte, um aus dem Werk herauszukommen. Keine Frage, dachte sie. Sie legte
gleich mit ihrer Ausbildung los, erst als Schwangere, dann mit dem Kind im Schlepptau,
und sie hatte fast zwei Jahre Studium gepackt, als die Entlassungen begannen.
Virgil schaffte immerhin sechs Runden, doch dann war auch er fällig. Man
brauchte graue Schläfen, um in jenen Tagen seinen Job zu halten – anfangs waren
es zehn Jahre im Beruf, dann fünfzehn. Virgil hatte fünf. Er war auf diesenJob so stolz gewesen – dass er besser dastand als der Rest seiner Familie,
alles Leute aus den Bergen, Leute aus der Bergarbeitersiedlung, und ihr Vater
hatte keinen Tag gearbeitet in seinem Leben.
    Es wurde eng. Sie warteten und warteten auf einen Neuanfang der
Stahlwerke. Doch die entließen immer weiter Leute, überall im Tal, und dann
wurden sie dichtgemacht, für Grace mit ihrem Kleinkind war Schluss mit der
Ausbildung. Es gab nicht einen Job. Nicht einen Pfennig, um ihn dreimal
umzudrehen. Währenddessen Virgils Vetter, der seit neuneinhalb Berufsjahren im
Stahlwerk war und hohe Fixkosten zu stemmen hatte für sein schönes Haus mit
eingelassenem Swimmingpool, sein Vetter verlor Haus und Frau und Tochter an
ein- und demselben Tag. Bank tauscht Schlösser aus, und Frau nimmt Tochter mit
nach Houston. Virgils Vetter brach ins eigene Haus ein und erschoss sich in der
Küche. Jeder im Tal kannte solche Geschichten – die reinste Horrorshow. Das war
die Zeit, als Virgil wieder anfing, mit seiner Familie zu reden. Als er anfing,
sich zu ändern, dachte sie. Und als er anfing zu erwägen, dass er doch nicht
besser war als seine Herkunft.
    Finstere Tage. So schlimm war die Lage nicht mehr, schon seit langer
Zeit. Der Trailer ging in Zwangsvollstreckung, aber zunehmend blockierten
Leute, Jagdgewehr im Kofferraum, die Auktionen, und als einer von den Bankern
ankam und verlangte, dass der Sheriff etwas unternähme, wurde ihm sein Cadillac
gleich umgestürzt und abgefackelt. Das Gericht beschloss,

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