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Rot wie Schnee

Rot wie Schnee

Titel: Rot wie Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Restaurants. Er schloss die Autotür auf, nahm aus dem Handschuhfach eine Landkarte und fand fast sofort Uppsala. Die Stadt lag vielleicht eine Autostunde vom Gefängnis entfernt.
    Manuel legte die Karte auf das Autodach und starrte wieder zu den Gefängnismauern und dem Tor, hinter dem Patricio eingeschlossen saß. Plötzlich begriff er, warum der Bruder keinen Anspruch auf das Vermögen erhob. Er schämte sich und wollte sich selbst bestrafen. Er könnte es besser haben und vielleicht sogar früher rauskommen, aber er versagte sich diese Möglichkeiten. Erfüllt von Scham- und Schuldgefühlen wollte er lieber in seiner Zelle verkommen.
    Manuel studierte die Landkarte, bemühte sich, die Ortsnamen auf dem Weg nach Uppsala auswendig zu lernen: Rimbo, Finsta, Gottröra und Knivsta. Es war, als spräche die Gegend auf der Karte zu ihm. Die unregelmäßigen grünen |37| und gelben Flächen bildeten Muster, die er sich vor Augen zu führen versuchte. Er sah sich um. Die Bäume rings um die Anstalt schwankten im Wind. Alles ähnelte so sehr ihrem Zuhause und war doch so fremd.
    Seit neun Stunden war er nun in Schweden. Er war mit einem einzigen Vorsatz gereist: sich um seinen Bruder zu kümmern. Um Geld für das Ticket zu haben, hatte er Schulden gemacht. Er hatte ihrer Mutter versichert, vorsichtig zu sein und nichts Ungesetzliches zu tun. War es ungesetzlich, die beiden Drogendealer, den Dicken und den Langen, dazu zu bringen, Patricio die zehntausend Dollar zu bezahlen, die sie ihm versprochen hatten?
    Wenn Patricio sie nicht haben wollte, wären sie doch immerhin für Maria eine Absicherung im Alter. Sie würde sich nie mehr Sorgen ums Geld machen müssen. Als er mit seinen Gedanken so weit gekommen war, fasste er einen Entschluss.
    Er faltete die Karte zusammen, setzte sich ins Auto und rollte vom Parkplatz.

6
    D akar« – der Name und drei Sterne blinkten abwechselnd in Rot und Grün. Eva Willman lehnte ihr Fahrrad an die Wand, trotz des Verbotsschildes.
    Sie hatte Patrik gebeten, Dakar im Internet nachzuschlagen. Er hatte Tausende Treffer gefunden. Dakar war die Hauptstadt des westafrikanischen Staates Senegal. Sie holten den Atlas, und als sie ihn aufschlugen, kam es Eva vor, als ginge sie auf eine Reise.
    Patrik beugte sich über den Küchentisch und fuhr mit dem Zeigefinger über die Seite. Die verschiedenfarbigen Länder, gerade Linien, die Ländergrenzen anzeigten, und blaue Linien, |38| die den Gegebenheiten der Natur folgten und sich über die Landkarte kringelten, sich anderen Adern anschlossen, bis sie in einem fein verzweigten Netz ins Meer mündeten. Patrik lachte leise.
    »Timbuktu«, sagte er auf einmal.
    Durch das Küchenfenster fiel blasses Sonnenlicht. Der Wechsel aus Licht und Schatten auf Patriks jungem Gesicht verwandelte es in einen Kontinent aus Hoffnungen. In der Küche war es vollkommen still. Eva hätte gern Patriks helles Haar und sein Gesicht mit dem zarten Flaum gestreichelt, aber sie ließ ihre Hand auf dem Stuhlrücken liegen.
    »Dakar liegt am Meer«, sagte Patrik und sah sie an. Seine Miene war schwer zu deuten. »Westlich davon gibt es bis Amerika nichts als Wasser.«
     
    Nun stand Eva vor einem »Dakar« weit entfernt vom Meer. Der Fluss war das Einzige, was ans Meer hätte erinnern können, aber der Fyrisån teilte die Stadt lediglich, Träume weckte er selten. Eva musste an ihren Großvater denken. Der Vater ihres Vaters war sein Leben lang Bauarbeiter, Kommunist und Alkoholiker gewesen, was besonders für seine Frau eine lebensgefährliche Kombination darstellte. Sie musste sowohl die Frustration wie den Hass des Großvaters auffangen. Erst als sie über sechzig war, schaffte sie es, sich von ihm zu trennen.
    Evas Vater wählte aus Protest die Rechten, und aus alter Gewohnheit tat er das auch noch lange, nachdem sein »roter« Vater gestorben war.
    Eva hatte doppelt geerbt: einerseits Abscheu vor Verstellung und Verlogenheit, vor Machtmenschen, andererseits Glauben an die persönliche Verantwortlichkeit eines jeden Menschen für sein Wohlergehen. Mit Kollektiven hatte sie es immer schwer gehabt. Mit denen, die sich im Namen der Vielen äußerten, aber nicht immer so lebten, wie sie es verkündeten. |39| Von der Sorte waren ihr bei der Post genug Menschen begegnet.
    Die Großmutter hatte in ihrer Jugend als Kellnerin im »Gillet« gearbeitet. Auf diese Erfahrung verwies sie ständig. Sie erinnerte sich weniger an die müden Füße und an die ungehobelten Gäste als mehr an das

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