Rot wie Schnee
verletzte.
Sie nahm den kürzesten Weg oder was sie für den kürzesten |130| Weg hielt. Als sie die Laubenkolonie endlich erreichte, war das letzte bisschen Mut verschwunden, und sie fing an zu weinen. Plötzlich dachte sie an Jörgen, Patriks und Hugos Vater, und daran, wie ungerecht das Leben doch war.
Ein Schatten löste sich aus dem Dunkel. Patrik kam ihr entgegen. Wie groß er geworden ist, dachte sie.
»Hallo, Mama«, sagte er, und wieder kamen ihr die Tränen.
»Es ist in Ordnung«, sagte er.
»Was passiert hier eigentlich? Ich muss es wissen! Warum machst du so was? Jetzt, wo alles …«
»Ruhig, Ma. Das sind nur die Bullen, die haben das aufgebauscht.«
Patrik erzählte, was in den letzten beiden Tagen passiert war. Eva wunderte sich, wie ruhig er war, wie klar und methodisch er von einem Vorfall nach dem anderen berichtete.
Als er fertig war, wurde ihr mit einem Mal die Unwirklichkeit der Situation bewusst. Dass sie mitten in der Nacht in einem Schrebergarten standen, die Erde duftete, hin und wieder summte eine Mücke um ihre Köpfe, und sie redeten über Gewalt und eine Welt, die sie sich nicht vorstellen konnte.
Ist das mein Patrik?, dachte sie. Ist das unser Leben? Unsere Siedlung?
»Musst du das nicht der Polizei erzählen?«
»Bist du verrückt?«
Seine Stimme verriet eine solche Härte, dass sie zurückzuckte.
»Aber wenn du …«
»Vergiss es, die glauben mir nicht. Und Zero flippt aus und seine Brüder erst recht.«
»Aber Drogen, das kommt mir so … Hast du das auch probiert?«
Patrik schüttelte den Kopf.
|131| »Ich will nicht die Kontrolle verlieren«, sagte er.
Instinktiv glaubte Eva ihm. Das sähe Patrik nicht ähnlich. Genau das wollte er doch. Die Kontrolle haben. Er verabscheute alles Unvorhersehbare.
»Jetzt gehen wir nach Hause«, bestimmte sie. Plötzlich war sie ruhig und einfach nur froh, dass er wohlbehalten neben ihr stand.
Zu ihrem Erstaunen protestierte Patrik nicht, sondern ging los, ohne noch ein Wort zu verlieren. Sie sah seiner Silhouette nach.
Das ist mein Sohn, dachte sie immer wieder. Das ist mein Sohn.
Als sie nach Hause kamen, saßen Hugo und Johnny vor dem Computer und spielten. Patrik ging sofort in sein Zimmer und machte die Tür hinter sich zu.
»Danke, dass du geblieben bist«, sagte Eva.
»Wir hatten es gut«, sagte Johnny, »oder Hugo?«
Der Junge nickte, spielte aber konzentriert weiter.
»Möchtest du etwas haben, ehe du nach Hause fährst?«
Johnny schüttelte den Kopf. Trotz der späten Stunde war er nicht müde, im Gegenteil. Der Besuch bei Eva hatte ihn belebt. Er sehnte sich gar nicht nach seiner Wohnung, aber es war ihm klar, dass er jetzt aufstehen und sie verlassen musste.
»Wir hatten es gut«, wiederholte er. »Hast du rausgefunden, was passiert ist?«
»Eigentlich nicht«, antwortete Eva. »Morgen sehen wir weiter. Ich glaube, Patrik muss mal eine Weile für sich sein und nachdenken.«
»Werdet ihr zur Polizei gehen?«
»Ich werde morgen wohl anrufen. Mal sehen.«
Eva sank auf Hugos Bett.
»Du solltest schlafen gehen«, sagte Johnny.
|132| Johnny fuhr mit gemischten Gefühlen nach Hause. Die Probleme anderer Leute waren nichts für ihn, und jetzt war er mitten hineingeraten. Das wollte er nicht, und Eva hatte auch keine Anstalten gemacht, ihn weiter zu behelligen. Dafür war er dankbar. Er hätte es nicht geschafft, die ganze Nacht auf zu sein und zu reden und zu trösten.
Gleichzeitig fühlte er sich froh. Er hatte etwas für einen anderen Menschen ausrichten können, der ihm offenbar vertraute. Eva hatte ihn kurz gedrückt, als er ging. Er lachte. Wie mutig, in dieser Welt allein zwei halbwüchsige Jungen aufzuziehen.
19
K arl Rosenberg war der jüngste von fünf Söhnen des berühmt-berüchtigten Sprengmeisters Karl-Åke Rosenberg, über den noch immer mehr oder weniger glaubhafte Geschichten kursierten. Karl-Åke hatte 1979 seine letzte Sprengung in Forsmark ausgelöst und war dann Knall auf Fall gestorben, an einem Herzinfarkt.
Irgendwie reichte für die Söhne, die Elisa Rosenberg zur Welt brachte, das genetische Material nicht aus. Nur der Erstgeborene, Bertil, war ein Hüne wie sein Vater; von den dann folgenden Söhnen waren einer immer schmächtiger als der andere. Konrad als der jüngste war nur eins siebenundfünfzig groß, mit eingesunkenem Brustkorb und Schuhgröße achtunddreißig.
Was ihm an physischer Ausstattung fehlte, machte er durch einen nie versiegenden Optimismus und ein
Weitere Kostenlose Bücher