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Rot wie Schnee

Rot wie Schnee

Titel: Rot wie Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Zypressen erinnerten. Am Himmel machte er zwei Raubvögel aus, genau wie im Tal zu Hause. Würde er sein Dorf je wiedersehen?
    Blitzschnell stand er auf, in einer einzigen Bewegung, wie ein erschrecktes Tier. Aber da ging nur ein Mann allein am Fluss entlang, er hielt eine Angelrute in der einen Hand, in der anderen einen Eimer. Zu dem langen, ausgemergelten Körper des Mannes gehörte ein ausgesprochen kleiner Kopf mit einem so runzeligen Gesicht, dass Manuel an eine alte Frau im Dorf denken musste. Sie sammelte
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und verkaufte die Kräuter für fünfzig Centavos das Sträußchen.
    Ob der Mann die Fische verkaufte? Oder angelte er zu seinem Vergnügen? Manuel wusste so wenig von Schweden und den Menschen in diesem Land. In Mexiko City hatte er in einer Buchhandlung etwas über sie in einem Reiseführer gelesen, das war alles.
    Als der Mann um eine Flussbiegung verschwunden war, verließ Manuel seinen geschützten Platz. Seit er am Haus des Kurzen Feuer gelegt hatte, verspürte er zunehmend eine Unruhe. Es waren so viele. Er hatte es auf Armas und den Dicken abgesehen gehabt. Aber als der Dicke den Kurzen traf, erweiterte sich sein Auftrag plötzlich. Natürlich hatte der Kurze Angel und Patricio nicht aktiv angeworben, aber er war ein Glied in der Kette, und offenkundig ein wichtiges. Vielleicht war er sogar der Kopf des Ganzen, und Armas und der Dicke waren nur Laufburschen?
    Etwas, das Patricio im Gefängnis gesagt hatte, trug zusätzlich zur Unruhe bei: »Wir hätten doch Nein sagen können.« Das stimmte. Manuel hatte Nein gesagt und die Brüder davor gewarnt, nach Oaxaca zu fahren, wo sie im Hotel wohnen und mit neuer Kleidung ausgestattet werden sollten. Sie hätten |213| absagen und weiterhin ihren Mais anbauen können, den nun die anderen ernten mussten.
    Aber sie hatten sich entschieden, Ja zu sagen. Worin lag ihre Verantwortung? Wie weit reichte sie?
    Manuel holte tief Luft. Er verschloss das Zelt mit dem kleinen Vorhängeschloss und spazierte dann hinauf zum Parkplatz. Ehe er auf die offene Fläche hinaustrat, sah er sich um. Dort waren etwa zwanzig Autos geparkt. Sein Leihwagen fiel zwischen den anderen nicht auf, nur er selbst fühlte sich wie ein fremder Vogel, als er vorsichtig näher kam.
    Der Parkplatz lag am Rande eines Kunsthandwerkerzentrums, das scheinbar von vielen Menschen besucht wurde. Der Platz war ideal. Das Auto würde niemandem auffallen, auch wenn es über Nacht stehen blieb. Es konnte einem der Arbeiter von der Erdbeerplantage gehören.
     
    Morgens hatte er im Fluss gebadet. Er hatte sich gründlich abgeschrubbt und das trotz des kalten Wassers genossen. Er war hin und her geschwommen und hatte sich anschließend am Flussufer von der Sonne trocknen lassen.
    Er war klein und drahtig. Manche ließen sich von seinem schmächtigen Körper täuschen. Aber er kannte seine Kraft. Geschult in der Feldarbeit wie alle Zapoteken konnte er lange und hart arbeiten. Er konnte hundert Kilo auf seinen Schultern tragen, konnte stundenlang, ohne zu ermüden, mit der Hacke oder der Machete arbeiten, Pause machen, Bohnen und
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essen, und dann weitermachen, konnte kilometerweit durch Berg und Tal wandern.
    Auf Männern wie ihm ruhte Mexiko. Er versorgte sich selbst und seine Familie und trug außerdem zu Reichtum und Überfluss anderer bei. Seinesgleichen hatten alle Kirchen und Monumente errichtet, die Straßen an steilen Berghängen angelegt, Mais, Bohnen und Kaffee angebaut. Warum sollte er also nicht einige Minuten an einem fremden Fluss |214| ausruhen, sich ausstrecken und von der Sonne trocknen lassen?
    Und trotzdem war und blieb er unruhig, und er ahnte auch, warum: Er hatte die Fähigkeit verloren, auszuruhen, zumindest für den Moment zufrieden zu sein, sich über Kleines zu freuen und an die Zukunft zu glauben. Der »Mann aus den Bergen« hatte ihn dieser für einen Zapoteken lebensnotwendigen Eigenschaften beraubt.
    Er verachtete sich selbst, und er war sich bewusst, dass sein Herz und seine Seele,
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, verloren waren. Nun war er genau wie sie.
     
    Als er zum Auto kam, versuchte er, den Trübsinn des Morgens abzuschütteln, denn der machte seine Bewegungen langsam und die Gedanken träge. Er brauchte aber alle Sinne. Dieses fremde Land stellte ihn vor extrem hohe Anforderungen, hier gab es keinerlei Ruhepunkte.
    Nach einem Blick auf die Karte fuhr er los. Er bog auf die Landstraße ein, überquerte den Fluss und fuhr in Richtung Uppsala. Die Gegend war reich. Er sah riesige

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