Rot
unangenehme, aber einfache Entscheidung. Als Eeva Vanhala ins Visier der stellvertretenden Generalstaatsanwältin geraten war, hatte er sofort beschlossen, Vanhala aus Finnland zu vertreiben, obwohl Anni Alanko bei weitem nichts Unwiderlegbares gegen die Frau in der Hand hatte. Doch gegen Laamanen, Saurivaara und Kankare verfügte Alanko über hieb- und stichfeste Beweise. Es blieb also nichts anderes übrig, als im Falle des Trios etwas zu unternehmen. Und Eeva Vanhala musste gezwungen werden, zu verraten, woher sie die Dokumente des Smirnow-Materials bekommenhatte. Sollte Leo Kara das gesamte Material gelesen haben, dann musste auch er erledigt werden.
Natürlich wusste der Vorsitzende des Kabinetts, wen er um Hilfe bitten würde: Der FSB wollte garantiert nicht, dass Smirnows Material an die finnischen Behörden weitergereicht wurde. Die Russen würden ihren Einfluss in Finnland verlieren, wenn man die Helfer des FSB enttarnte. Und die Vernichtung des Kabinetts würde auch die Ziele von Mundus Novus gefährden. Er griff zum Telefon. So bedauerlich das auch war, sie würden wahrscheinlich wieder diesen verrückten Kirgisen nach Finnland schicken.
7
Mittwoch, 5. Oktober – Donnerstag, 6. Oktober
Clive Grover, der Leiter der Abteilung für Aufklärungsoperationen des SIS, saß schon eine Ewigkeit im Starbucks Café in der Kensington High Street. Vor etwa zwei Stunden war es in London dunkel geworden. Er hatte eine Tasse Caffè Americano und einen Flat White und zwei Tassen Frappuccino getrunken und sich im Kopf einen exakten Plan für einen Clearing Run zurechtgelegt. Eine Flucht hätte nur Aussicht auf Erfolg, wenn es ihm gelang, die Männer vom MI5 abzuschütteln.
Grover stand auf, ging zu einem Mann mittleren Alters in einer Lederjacke, legte seine Zeitung auf den Tisch am Fenster und sagte: »Hier ist der Guardian, Sie können ihn gern lesen, wenn Sie möchten.« Er nahm sich an der Garderobe zwei Mäntel, von denen nur einer ihm gehörte, und trat hinaus auf den Fußweg. Wenn er im Verdacht stand, Informationen zu verraten, dann müsste jetzt zumindest einer der Männer vom MI5, die ihn beschatteten, den Mann überprüfen, mit dem er sich im Café unterhalten hatte.
Im Foyer der Metrostation holte er einen Zettel aus der Tasche und ließ ihn in den Abfallkorb fallen, auch den müssten seine Schatten untersuchen, so funktionierte das. Auf dem Bahnsteig wählte er den Notruf und sagte in einem möglichst fremdländischen Akzent: »Auf dem U-Bahnhof Kensington High Street explodiert in zehn Minuten eine Bombe mit einem Kilo Azetonperoxid, der Mutter des Teufels.« In Großbritannien mussten die Behörden heutzutage jede Bombendrohung erst nehmen.
Als die Evakuierung des Bahnhofs wenig später begann, schobsich Clive Grover in das Menschengedränge und zog den im Café gestohlenen Mantel über. Während der nächsten zwei Stunden und siebenunddreißig Minuten benutzte er vier verschiedene Metrolinien, stieg etwa zwanzigmal um, fuhr einmal mit dem Taxi und zweimal mit dem Bus, ging zu Fuß weite Wege auf sehr belebten Bürgersteigen und wechselte in drei verschiedenen Warenhäusern von einer Abteilung in die andere.
Um 23:08 Uhr stand Grover am Sheperd Market in Mayfair, im Herzen Londons, und war absolut überzeugt, dass ihm niemand hatte folgen können. Jetzt war es Zeit, aus England zu verschwinden. Darauf hatte er sich schon seit Jahren vorbereitet.
Plötzlich packte ihn jemand an der Schulter. Er drehte sich um und sah eine Frau vom MI5, die er kannte, an deren Namen er sich aber nicht erinnerte.
»Willst du irgendwohin fahren?«, fragte sie und lächelte.
Grover war so überrascht, dass er kein Wort herausbrachte.
»Hast du wirklich ernsthaft geglaubt, du könntest uns entkommen?«
* * *
Völlig erschöpft stieg Leo Kara die Treppen zu Kati Soisalos Wohnung hinauf. Wenn er nach Fakten suchte, die mit dem Verschwinden seines Vaters zusammenhingen, kam es ihm so vor, als würde er im Sumpf waten: Mit jedem Schritt sank er immer tiefer ein, und fester Boden war nirgendwo in Sicht. Im Moment machten ihm allerdings zur Abwechslung einmal positive Erinnerungen zu schaffen: die heißen Sommer seiner Kindheit, die Besuche bei der Schwester seines Vaters in Leppävesi und Tante Eevas Rauchsauna. Außerdem dachte er daran, wie gut seine Eltern trotz ihrer Streitereien Partys organisieren konnten. Deshalb hatte er sich genau wie Emma immer auf den 1. Mai gefreut fast wie auf Weihnachten. Allmählich
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