Rote Lilien
Stella lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und musterte Hayley aufmerksam. »Warum machst du nicht einfach eine Pause?«
»Wenn ich aufhöre zu arbeiten, fange ich an zu denken. Und dann sehe ich wieder die Fotos von Harpers Küche vor mir.«
»Hayley, ich weiß, dass es schlimm ist, aber ...«
»Es ist meine Schuld.«
»Warum ist es deine Schuld, wenn Harpers Küche verwüstet wird? Hattest du auch etwas mit der zerbrochenen Vase in meinem Wohnzimmer zu tun? Es will nämlich niemand gewesen sein. Zurzeit muss es wieder jemand ausbaden, der >Ich weiß nicht< heißt.«
»>Ich weiß nicht< ist der klassische Prügelknabe.«
»Ihm und seinem Bruder, der >Ich war's nicht< heißt, ist nichts heilig.« Hayley seufzte und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »In Ordnung, ich mach eine Pause. Eine kurze. Hast du ein paar Minuten Zeit für mich?«
»Sicher.« Stella riss sich von der Tabelle auf ihrem Computerbildschirm los. »Als ich gestern Abend nach Hause gefahren bin, habe ich noch kurz bei Harper reingeschaut. Ich hatte mir eingeredet, ich müsste jetzt endlich etwas unternehmen und herausfinden, woran ich mit ihm bin. Wenn er in mir nur seine Cousine Hayley oder Lilys Mutter oder was auch immer sieht, ist das in Ordnung. Aber ich wollte endlich wissen, was passiert, wenn ich mit ihm zu flirten anfange.«
»Wow. Und dann?«
»Ich habe mit schwerem Geschütz angegriffen. Ich hab mich in seine Küche gestellt und ihm einen Kuss von der Sorte gegeben, mit der man jemandem zu verstehen gibt, dass er eine Menge verpasst, wenn er nicht endlich was unternimmt.« Stella musste lachen. »Und? Hat er angebissen?«
»Das könnte man sagen. So, wie er mich geküsst hat, hatte er absolut nichts dagegen, dass ich ihm Tür und Tor geöffnet habe. Sein Mund ist einfach göttlich. Das hatte ich mir zwar schon gedacht, aber nach dem Praxistest ist mir klar, dass ich ihn sogar noch unterschätzt habe.«
»Aber das ist doch genau das, was du gewollt hast.«
»Es geht nicht darum, was ich will. Oder vielleicht doch.« Sie sprang auf, aber das Büro war so winzig, dass sie nicht hin und her gehen konnte. »Vielleicht ist das ja der springende Punkt. Es war in seiner Küche, Stella. Ich habe ihn in seiner Küche geküsst, und ein paar Stunden später hat Amelia alles dort zertrümmert. Man muss kein Mathegenie sein, um zwei und zwei zusammenzuzählen. Ich habe ihm Tür und Tor geöffnet, aber sie ist hereingekommen.«
»Du bringst die Metaphern durcheinander. Ich sage ja dass du mit deiner Vermutung völlig daneben liegst.« Stella bückte sich und öffnete ihren kleinen Kühlschrank, um zwei Mineralwasserflaschen herauszuholen. »Aber du bist doch nicht schuld daran, dass Amelia seine Küche verwüstet hat. Sie ist sehr sprunghaft, Hayley, und keiner von uns ist für das, was sie tut, verantwortlich - oder für das, was mit ihr geschehen ist.«
»Natürlich nicht, aber sag ihr das mal«, murmelte Hayley, als Stella ihr eine der Flaschen gab. »Wir müssen herausfinden, was damals vorgefallen ist, und es irgendwie wieder gutmachen, soweit das überhaupt möglich ist, aber in der Zwischenzeit müssen wir unser Leben weiterleben.«
»Es geht um sexuelle Energie und emotionale Abhängigkeit. Das denkt jedenfalls Roz, und ich glaube, an der Vermutung könnte etwas dran sein.«
»Du hast Roz von dir und Harper erzählt?« Hayley nahm einen großen Schluck aus der Flasche. »Nein. Das meine ich jetzt nur allgemein. Außerdem gibt es kein >Ich und Harper<, jedenfalls nicht, wenn man es genau nimmt. Roz und Mitch glauben, dass sich Amelia von sexueller Energie und aufkeimenden Gefühlen provozieren lässt. Also werde ich jetzt erst einmal ein bisschen von dieser Energie und diesen Gefühlen abarbeiten.«
»Selbst wenn du das könntest, wären da immer noch Harpers Energie und Gefühle.«
»Darum werde ich mich auch kümmern. Es wirkt nur, wenn seine Gefühle auf mich gerichtet sind. Sonst hätte sie ihm schon längst einmal einen Denkzettel verpasst.«
Ihre Finger krampften sich um den Hals der Wasserflasche, doch sie ertappte sich rechtzeitig dabei, bevor der Inhalt überfloss. »Du kannst darauf wetten, dass er schon vor gestern Abend einmal eine Frau in seiner Küche gehabt hat, mit der er mehr ausgetauscht hat als nur ein paar feuchte Küsse. Trotzdem ist Amelia vorher nie ausgerastet.«
»Da hast du sicher Recht. Aber wenn das Ganze mit dir und Harper zu tun hat, muss es auch etwas bedeuten. Vielleicht ist es
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