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Roter Drache

Roter Drache

Titel: Roter Drache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Harris
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führte.
Miß Harper drückte auf den Rufknopf. Sie umschlang ihre Ellbogen und wartete. Ihre klaren, blauen Augen fielen kurz auf das weiß-rosa Abzeichen an Dolarhydes Rockaufschlag. »Das ist ja ein Passierschein für den sechsten Stock, was er Ihnen da gegeben hat«, erklärte sie. »Aber das macht nichts. Im fünften Stock sind heute sowieso keine Wärter. Womit befassen Sie sich eigentlich in Ihrer Arbeit genauer?«
Dolarhyde hatte die Unterhaltung bis dahin mit Lächeln und Nicken geführt. »Ich arbeite über Butts«, erklärte er nun jedoch.
»Über William Butts?«
Er nickte.
»Ich habe nie viel über ihn gelesen. Eigentlich findet man ihn immer nur in Fußnoten als Mäzen Blakes aufgeführt. Ist er denn interessant?«
»Ich stehe erst am Anfang meiner Arbeit. Ich werde noch nach England fliegen müssen.«
»Soviel ich weiß, haben sie in der National Gallery zwei Aquarelle, die Blake für Butts gemalt hat. Haben Sie die schon gesehen?«
»Nein.«
»Kündigen Sie denen Ihren Besuch lieber schon mal rechtzeitig an.«
Er nickte. Der Lift kam.
Fünfter Stock. Er verspürte ein leichtes Kribbeln, aber er hatte Blut in seinen Armen und Beinen. Bald würde es nur noch ja oder nein heißen. Jedenfalls würde er sich nicht von ihnen ergreifen lassen, falls etwas schief ging.
Sie führte ihn einen Korridor hinunter, an dessen Wänden Porträts berühmter Amerikaner hingen. Am Tag zuvor war er nicht auf diesem Weg gekommen. Aber er wußte, wo er sich befand. Alles in Ordnung. Doch in dem Korridor wartete etwas auf ihn, und als sein Blick darauf fiel, erstarrte er mitten in der Bewegung.
Paula Harper merkte, daß er nicht mehr folgte, und drehte sich nach ihm um.
Wie erstarrt stand er vor einer Nische in der Wand mit den Porträts.
Sie trat auf ihn zu und sah nun, worauf er wie gebannt starrte. »Das ist ein Gilbert-Porträt von George Washington«, sagte sie.
Nein, das war es nicht.
»Ein ähnliches Porträt kennen Sie vielleicht von der Ein Dollar-Note. Man nennt es auch Lansdowne-Porträt, weil Stuart es zum Dank für seine Unterstützung der amerikanischen Revolution für den Marquis von Landsdowne gemalt hatte... Was haben Sie denn, Mr. Crane?«
Dolarhyde war totenblaß. Das war wesentlich schlimmer als alle Dollarscheine, die er je zu Gesicht bekommen hatte. Mit seinen schwerlidrigen Augen und dem schlechten Gebiß starrte ihm Washington aus dem Rahmen entgegen. Er sah haargenau wie Großmutter aus. Dolarhyde kam sich vor wie ein kleiner Junge mit einem Gummimesser.
»Mr. Crane, fehlt Ihnen auch nichts?«
Antworte, oder es war alles umsonst. Reiß dich zusammen. O mein Gott, du Süßer, ist das schöööön. DU BIST DER ABSTOSSENDSTE... Nein.
Sag etwas.
»Ich nehme Kobalt«, brachte er schließlich hervor.
»Möchten Sie sich vielleicht kurz setzen und ausruhen?« Er strömte tatsächlich einen schwachen medizinischen Geruch aus.,
»Nein, gehen Sie ruhig schon voraus. Ich komme gleich nach.« Du wirst mir nichts abschneiden, Großmutter. Ich würde dich bedenkenlos umbringen, wenn du nicht sowieso schon tot wärst. Schon tot. Schon tot. Großmutter war schon tot! Tot jetzt, tot für immer. O mein Gott, du Süßer, ist das schöööön.
Der andere war jedoch nicht tot, war Dolarhyde nur zu deutlich bewußt.
Er folgte Miß Harper durch Dickichte der Angst hindurch den Korridor hinunter. Durch eine Doppeltür betraten sie das Restaurationsatelier und das Magazin. Dolarhyde sah sich rasch um. Es war ein länglicher, friedvoller Raum, hell erleuchtet und voller Drehgestelle mit verhängten Bildern. Entlang einer Wand waren mehrere Büroinseln abgeteilt. Die Tür des hintersten Büros stand offen; er hörte aus ihr das Geräusch einer Schreibmaschine dringen.
Außer Paula Harper war niemand zu sehen.
Sie führte ihn an einen thekenhohen Arbeitstisch und brachte ihm einen Hocker.
»Warten Sie hier. Ich bringe Ihnen das Aquarell gleich.«
Sie verschwand hinter den Drehgestellen.
Dolarhyde öffnete einen Knopf seines Hemdes über dem Bauch.
Miß Harper kam zurück. Sie trug einen flachen, schwarzen Behälter von der Größe einer Aktenmappe. Dort drinnen war es. Woher nahm sie nur die Kraft, das Bild zu tragen? Er hatte es sich nie flach vorgestellt. Obwohl in den Katalogen die Maße mit 44 auf 34 Zentimeter angegeben waren, hatte er dem keinerlei Beachtung geschenkt. Er hatte sich das Bild riesengroß vorgestellt. Aber es war ganz klein. Es war ganz klein, und es war hier in diesem friedvollen Raum. Nie war ihm bis

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