Roter Zar
schnappte sich das an der Mauer lehnende Fahrrad, zwischen dessen Speichen immer noch einige eingetrocknete Wasserpflanzen hingen.
»Was habe ich denn gesagt?«, fragte Kirow.
Pekkala stieg aufs Rad. »Wenn wir ihn nicht nach Moskau schaffen können, dann schaffen wir Moskau eben zu ihm. Ich bin in einer Stunde wieder da.«
»Vergessen Sie nicht, das Ding hat keine Bremsen«, rief Kirow ihm hinterher.
Leicht wankend fuhr Pekkala zur Straße hinaus und machte sich auf den Weg zu Kropotkins Büro. Er hatte vor, im Büro für besondere Operationen in Moskau anzurufen und eine Abteilung Wachsoldaten anzufordern, um die Sicherheit des Zarewitsch zu gewährleisten. Selbst wenn die Soldaten unverzüglich aufbrachen, dürften sie wohl mehrere Tage brauchen, bis sie hier waren. So lange mussten sie Alexej im Ipatjew-Haus versteckt halten und so viele Polizisten davor postieren, wie Kropotkin entbehren konnte. Pekkala würde die Zeit dazu nutzen, mit dem Zarewitsch zu reden und dessen Vertrauen wiederzugewinnen. Bis die Soldaten aus Moskau eintrafen, sollte Alexej bereit sein, freiwillig mitzukommen.
Pekkala fuhr, so schnell er konnte. Bog er um eine unübersichtliche Kurve, ließ er die Zehenspitzen über das Kopfsteinpflaster schleifen und bremste so ein wenig ab. Er raste durch enge Seitengassen, in denen ihm der teerartige Geruch von Waschseife in die Nase stieg, von verkohltem Fett und rauchigem Tee, der in der feuchten Morgenluft in Samowaren aufgebrüht wurde. Hinter den Lattenzäunen standen in den Gärten weiße Birken, deren Blätter silbrig und grün funkelten wie die Pailletten an dem Kleid einer Frau.
Pekkala war von alldem so abgelenkt, dass er nicht bemerkte, wie der schmale Weg im rechten Winkel in eine andere Straße einmündete. Er würde unmöglich noch die Kurve nehmen und ebensowenig noch rechtzeitig abbremsen können. Und genau vor ihm erstreckte sich die vertraute tiefblaue Oberfläche des Ententeichs.
Pekkala stemmte sich gegen den Lenker, rammte einen Absatz in den Boden, spürte, wie er ins Schlittern geriet und gleich darauf kaum eine Armlänge vom Wasser entfernt zum Stehen kam.
Als sich der um ihn aufgewirbelte Staub gelegt hatte, bemerkte er eine Frau, die vor ihm am Ufer zwischen dem Schilfrohr stand. Sie hatte einen großen Korb bei sich, trug ein rotes Kopftuch, eine dunkelblaue Bluse, deren Ärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt waren, und einen braunen, knöchellangen Rock mit schlammverkrustetem Saum. Sie starrte ihn an. Sie hatte ein ovales Gesicht, und ihre Augenbrauen waren dunkler als ihre strähnigen blonden Haare.
»Mein Rad«, erklärte Pekkala. »Hat keine Bremsen.«
Sie nickte nicht sehr freundlich.
Irgendwie kam ihm die Frau bekannt vor, aber er konnte sie nicht einordnen. So viel zum vollkommenen Gedächtnis, dachte er. »Entschuldigung«, sagte er, »aber kenne ich Sie?«
»Ich jedenfalls kenne Sie nicht«, erwiderte die Frau. Sie machte sich zwischen den Rohrkolben wieder über die Pflanzen her.
Orangefarbene Pfauenaugen flatterten um sie herum.
»Was sammeln Sie da?«, fragte Pekkala.
»Die Samen von Rohrkolben«, antwortete die Frau.
»Wofür?«
»Damit kann man Kissen füllen.« Sie hielt eine Handvoll der fedrigen weißen Samen hoch, die über das Wasser fortgetrieben wurden.
In diesem Augenblick erinnerte er sich. »Katamidse!«, rief er.
Sie wurde rot. »Was ist mit ihm?«
»Die Fotografie«, sagte er. In der Schachtel mit den ausgesonderten Bildern! Auf einer der Aufnahmen hatte Pekkala die Frau gesehen: Sie hatte genau wie jetzt am Teichufer gestanden, umgeben von einer silbernen Wolke, die aussah wie ein geisterhaft verwischtes Gesicht.
»Das ist lange her, und er hat immer gesagt, es wären rein künstlerische Aufnahmen.«
»Na ja, das Foto hatte zumindest …« Er musste an die rosarot gefleckten Wangen der Nonnen denken. »… eine gewisse Qualität.«
»Es war nicht meine Idee, nackt zu posieren.«
Pekkala schnaubte überrascht. »Nackt?«
»Dieser Alte, Majakowski, der hat die Bilder gekauft. Und sie dann an die Soldaten weiterverkauft. Erst an die Roten, dann an die Weißen. Majakowski war es egal, solange sie gezahlt haben. Haben Sie auch eins gekauft?«
»Nein«, versuchte Pekkala sie zu beruhigen. »Ich habe lediglich davon gehört.«
Sie drückte sich den Korb an die Brust. »Jeder hat anscheinend davon gehört.«
»Sie haben genau da gestanden.« Pekkala deutete auf sie. »Genau da, wo Sie jetzt auch stehen.«
»Ach, dieses
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