Rotes Gold: Ein kulinarischer Krimi. Xavier Kieffers zweiter Fall
Portemonnaie einen 20-Euro-Schein. Beides schob er dem Wirt über den Tresen hin. Der sagte nichts, steckteden Schein jedoch ein und heftete Kieffers Streichholzbriefchen an eine Pinnwand hinter sich.
Der Luxemburger trank seinen Kaffee in einem Zug leer. Schließlich stand er wortlos von seinem Hocker auf und ging zum Ausgang. Er war bereits halb durch die Tür, als sein Blick auf eine Serie kleiner gerahmter Fotos fiel, die rund um den Türrahmen angebracht waren. Sie zeigten allesamt Fischer, vermutlich irgendwo auf dem Mittelmeer. Es waren braun gebrannte Typen mit muskulösen Armen und dunklen Haaren, die unter einem azurblauen Himmel in hölzernen Booten standen. Ihre Hände umfassten lange Stangen, ihre Blicke waren auf das brodelnde Wasser unter ihnen gerichtet. Kieffer trat näher heran, um die kaum postkartengroßen, angegilbten Motive besser betrachten zu können. Das Meer zwischen den Booten war blutrot, gekrönt von rosafarbener Gischt. Darin erkannte man Fische, riesige Thunfische, die dicht an dicht gedrängt im Wasser schwammen – nein, das war falsch, sie schwammen nicht, sie lagen förmlich auf dem Wasser, als ob sie jemand dort aufeinandergestapelt hätte. Viele der Tiere bluteten aus tiefen Wunden. Die Fischer waren dabei, die zappelnden Thuns mit ihren Stangen, an deren Enden große gebogene Haken befestigt waren, aus dem Meer in die Boote zu hieven. Auch die Männer waren voller Blut, Thunblut. Es rann über ihre nackten Arme und Beine, benetzte ihre Harpunen, lief über die weißgetünchten Bootswände.
Kieffer nahm eines der Bilder von der Wand und ging noch einmal zurück zur Bar. Er hielt es dem Wirt hin. »Diese Bilder da an der Tür. Was zeigen die?«
Der Bartender tippte auf das Glas des Rahmens. »Dashier ist la camera della morte. Die Kammer des Todes. Sizilianischer Thunfischfang.«
»Und wieso Kammer des Todes?«, fragte der Koch.
»Im Mai legt man bei uns große Reusen aus, in die sich der Thun verirrt. Und wenn genügend große Fische in der letzten Kammer, in der Todeskammer versammelt sind, dann kommen alle Fischer zur Mattanza.«
»Ich kann kein Italienisch. Was heißt Mattanza?«
»La Mattanza? Das Gemetzel.«
[Menü]
10
An der Gare de l’Est musste Kieffer nicht lange warten, bis der nächste TGV nach Luxemburg fuhr. Der Koch fühlte sich nach dem ereignisreichen Tag völlig ausgelaugt, doch es half alles nichts. Er warf zu Hause seine Tasche ab, duschte ausgiebig und fuhr dann in sein Restaurant. Das »Deux Eglises« lag etwas oberhalb des Unterstadtviertels Clausen, am Hang des Kirchbergs, dem mit Glaspalästen vollgestellten Geschäftsviertel im Nordosten der Minimetropole. Auf dem Hügel befand sich der Sitz des Europäischen Gerichtshofs, des EU – Parlamentsdienstes und etlicher anderer Institutionen der Union. Außerdem beherbergte der Kirchberg eine kaum überschaubare Zahl von Banken, Investmentfonds und weiteren Finanzfirmen, die ebenso unverständliche wie lukrative Geschäfte tätigten. Die Menschen, die dort oben arbeiteten, sickerten allabendlich vom Kirchberg hinunter in die Brasserien und Restaurants der Unterstadt, um den Abend bei einem Glas Rivaner oder einem Cocktail zu beschließen. Auch Kieffers Gaststätte wurde von vielen Finanziers und Fonctionnaires frequentiert, da sie für authentische moselfränkische Küche bekannt war – unddie bekam man nur noch in sehr wenigen Restaurants. Außerdem bot das »Deux Eglises« dank seiner Hanglage einen schönen Blick auf die Unterstadt und den dahinter liegenden, steil aufragenden Bockfelsen, auf dem die Oberstadt thronte.
Es war nun bereits nach neun Uhr, und das Abendgeschäft war in vollem Gange. Kieffer stellte seinen klapprigen Lieferwagen vor dem alten napoleonischen Garnisonsgebäude ab, das sein Lokal beherbergte. Er betrat das Restaurant und erklomm die steilen steinernen Stufen, die in die Küche im Obergeschoss führten. Dort war seine Souschefin Claudine gerade damit beschäftigt, am Pass zehn Teller des Luxemburger Nationalgerichts zu inspizieren, bevor sie für den Kellner freigegeben wurden: Judd mat Gaardebounen, gepökelter Schweinsnacken mit dicken Bohnen. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen war sie nicht erfreut über das, was sie sah.
»Diese Garnitur ist Schrott«, bellte sie einen der Postenköche an und tippte dabei mit ihrem hölzernen Kochspatel gegen zwei der Teller. »Und hier: Soßenflecken. Kräizdonnerwieder! Mir sin hei nët an der Frittebuud.« Der von Claudine
Weitere Kostenlose Bücher