Rotes Pferd mit schwarzer Mähne
erstenmal, seit er in diesem Sommer bei ihnen war, nötigte sie ihn nicht weiter zum Essen. Er stand auf, noch ehe Onkel und Tante fertig waren, und obwohl die Tante sich wunderte, warum er das Porzellanwaschbecken mit warmem Wasser füllte und mit hinausnahm, fragte sie ihn nicht nach dem Grund.
In der Geschirrkammer am anderen Ende des Stalles fand sich ein Desinfektionsmittel, von dem Tom einige Tropfen in das Wasser schüttete. Dann nahm er Verbandgaze, faltete sie sorgfältig zusammen und trug alles zu Queens Box. Um die Stute abzulenken, schüttete er ihr Heu in die Raufe. Nun konnte er ungestört die Wunde des Fohlens behandeln. Sie blutete nicht mehr, auch war die Schwellung schon ein wenig zurückgegangen. Er tränkte die Gaze mit der Desinfektionslösung, versteckte seine Rechte hinter dem Rücken und kniete nieder, um die Linke mit etwas Streuzucker unter dem Bauch der Mutter hindurch dem Fohlen hinzustrecken.
Er mußte lange in dieser unbequemen Stellung ausharren, denn das Fohlen war viel zu verschüchtert, als daß es sich herantraute. Plötzlich spürte Tom doch den Atem des Fohlens an seiner ausgestreckten Hand. Er bewegte sich nicht, als es endlich den Zucker ableckte.
Erst nachdem es sich abgewendet hatte, stand er auf, feuchtete die Gaze nochmals an, nahm wieder Zucker in die andere Hand und trat freundlich zuredend, diesmal von vorn, an das Fohlen heran.
Während es leckte, gelang es Tom endlich, mit der Gaze die blutverkrusteten Striemen zu betupfen. Das Fohlen erschrak ein wenig und wich zurück, aber es wehrte sich nicht. Tom bot ihm wieder Zucker an. Das Fohlen kam näher heran, um zu lecken, und diesmal gelang es dem Jungen, die verletzte Stelle sorgfältig zu reinigen.
Was würde geschehen, wenn er das nächstemal versuchte, ihm einen Halfter über den Kopf zu streifen? Erst mußte die Wunde verheilen. Inzwischen würde das Fohlen schnell an Gewicht und Kraft zunehmen — wenn es jetzt schon schwierig war, es zu halten, wie sollte das in einem Monat gelingen? Er dachte niedergeschlagen daran, daß er noch an Jimmy schreiben und bekennen mußte: «Heute ist etwas Trauriges geschehen, Jimmy, und ich schäme mich so bitterlich...»
Es dauerte einen vollen Monat, bis die Wunde am Kopf des Fohlens verheilt war. In dieser Zeit war Tom so beschäftigt wie noch nie. Ängstlich besorgt beobachtete er den Heilungsprozeß und war grenzenlos erleichtert, als sich die Wunde schloß und wieder Fell darüber zu wachsen begann. Nicht einmal eine Narbe würde zurückbleiben!
Über Tag entfernte er sich von seinem Pflegling nur, wenn er die kleinen Pflichten erfüllte, die seine Verwandten ihm übertragen hatten. Es gab mehr als tausend Hühner auf der Farm; er half seinem Onkel beim Füttern und dann beim Einsammeln und Verpacken der Eier, die in die Stadt geliefert wurden. Sobald seine Arbeit getan war, widmete er sich dem Fohlen. Es ließ sich willig streicheln und mit der weichen Bürste bearbeiten, an die Tom es gewöhnt hatte.
Mit Freude und Genugtuung beobachtete er, wie es heranwuchs und von Tag zu Tag schöner wurde. Sein Kopf war edel und klein, die Augen waren klar und wach, die Knie gerade, die Sprunggelenke kräftig; die Schultern würden stark und fehlerfrei und die Brust tief und breit werden. Sein Gangwerk war ausgreifend, gleichmäßig und schwungvoll. Beim Laufen legte es die Ohren flach am Kopf an, obwohl es in keiner Weise bösartig war.
Jimmy Creech hatte auf Toms Brief geantwortet:
Es ist bedauerlich, aber es ist nun einmal geschehen, und Wunden heilen bei so jungen Tieren schnell. Was mir mehr Bedenken macht, ist, daß Dein Onkel das Fohlen zu Boden geworfen hat. Man kann ein junges Pferd genausowenig wie ein Baby einfach hinwerfen. Die Anwendung von Gewalt hat keinen Platz in der Erziehung. Dein Onkel mag es nicht wissen, aber eine derartige Behandlung kann eine Verletzung des Rückgrats oder eines Beins zur Folge haben, die sich erst beim erwachsenen Tier bemerkbar macht; als Rennpferd ist das Pferd dann untauglich.
Bestehe also darauf, lieber Tom, daß sich Dein Onkel niemals wieder in die Erziehung unseres Fohlens einmischt, sonst möchte ich es lieber sofort von dort wegholen...»
Tom spielte und tobte mit dem Pferdchen herum. Nachdem er eine halbe Stunde mit ihm gerannt war, verließen ihn die Kräfte, und er wollte aufgeben. Das Fohlen aber wollte weitermachen. Mit hocherhobenem Kopf beobachtete es ihn, preschte plötzlich auf ihn zu, als wollte es ihn umrennen. Erst
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