Rotkäppchens Rache
Sicht auf die Sterne. Der Mond war bereits untergegangen. Fledermäuse flatterten umher, unsichtbar bis auf die Momente, wo sie vor den verblassenden Sternen vorbeiflogen.
Es waren bestimmt auch noch andere Beutejäger unterwegs. Danielle schloss die Augen und bat still um Hilfe.
Nicht allzu lange, und der Ruf eines Tiers antwortete ihr. Eine Eule schwebte über ihr, in deren Klauen sie gerade so die schlaffe Gestalt eines Eselhasen ausmachen konnte. Die Eule ließ den Hasen fallen, der mit einem dumpfen Laut auf den Felsen aufschlug.
Der Wolf fuhr bei dem Geräusch zusammen und drehte seinen Kopf, um Danielle anzufunkeln.
»Gib mir nicht die Schuld!«, sagte Danielle. Sie eilte hinüber, um den Hasen zu holen. »Hat der große böse Wolf sich etwa vor einem kleinen Häschen erschreckt?«
Mit hoffnungsvoller Miene sprang der Wolf von den Felsen.
»Geh dir selbst eines besorgen!« Kichernd zog Danielle ein Messer aus dem Gürtel. Ein paar Jahre früher wäre ihr nie in den Sinn gekommen, mit einer Waffe zu schlafen; dank Talia hatte sie es letzte Nacht ohne nachzudenken getan.
»Pass auf sie auf, Mutter«, betete sie. »Talia hat so viel verloren. Lass sie nicht auch noch Faziya verlieren.«
Mit diesen Worten setzte sie sich hin und begann, den Hasen auszunehmen.
*
Talia konnte Danielle draußen hören, die eine leise Unterhaltung mit irgendetwas führte, das gekommen war, um ihr Gesellschaft zu leisten.
Kurz darauf rührte sich auch Roudette. Sie streckte sich, ließ einen fahren und kroch aus der Höhle. Sonnenlicht blinzelte um die Ecke der Decke, doch Faziya schlief immer noch.
Talia streckte ein Bein aus und trat Schnee in die Hüfte, bis sie stöhnte und den Fuß wegschlug.
»Faziya schläft jetzt schon ganz schön lange«, sagte Talia.
»Die Glückliche!« Gähnend setzte Schnee sich auf. Ihre Spiegel fingen den Sonnenschein vom Eingang ein und trugen zur Helligkeit in der Höhle bei. Da sie den größten Teil des Golddrahts benutzt hatte, um Faziyas Wunde zu nähen, hatte Schnee ihr Halsband zu einem Armband umfunktioniert, das um ihr rechtes Handgelenk lag.
Schnee griff hinüber und zog die Decke von Faziyas Schulter. Ein dunkler Blutfleck verunzierte den Verband in der Mitte. Schnee schnalzte mit der Zunge, als sie den Rand der Bandage zurückzog, um nach der Naht zu sehen. »Es sickert noch Blut heraus, aber es ist nicht schlimm. Weck sie! Ihr Körper braucht Wasser und Nahrung.«
Schnee schlüpfte aus der Höhle und ließ Talia und Faziya allein. Talia beugte den Kopf nah an Faziyas Ohr und flüsterte ihren Namen. Als das nicht funktionierte, küsste sie sie auf die Wange und versuchte es noch einmal, diesmal lauter.
Keine Reaktion. Talia bekam es mit der Angst zu tun. Indem sie ihre beste Imitation von Mutter Khardija ablieferte, sagte sie: »Schwester Faziya, wache augenblicklich auf! Deine Aufgaben erledigen sich nicht von allein, nur weil du letzte Nacht bis in die Puppen mit deinen Rowdyfreunden unterwegs warst!«
Faziya stöhnte und machte Anstalten, sich auf die andere Seite zu rollen. Talia hielt sie an den Schultern fest und versuchte, sie daran zu hindern, den Arm zu bewegen.
»Mutter Khardija?« Faziya hustete, dann keuchte sie und ergriff Talias Arm.
»Ich hab’ dich«, sagte Talia. »Versuch, dich zu entspannen.«
»Talia?« Faziya blinzelte und sah zu ihr auf. »Wie -« Wieder hustete sie. »Was ist passiert? Wo -«
Talia küsste sie. Behutsam zuerst, denn sie wollte die Verletzung nicht verschlimmern. Faziya schlang den gesunden Arm um Talias Hals und erwiderte den Kuss mit einem Hunger, der Talia an ihre ersten gemeinsamen Tage erinnerte. Nur zu bald fiel Faziya zurück und schnappte nach Luft.
»Versuch, dich nicht zu bewegen!«, sagte Talia und versuchte ihrerseits, sich nicht schuldig zu fühlen. Selbst diese kleine Anstrengung war möglicherweise zu viel für sie gewesen.
»Ich habe immer gebetet, dass Gott dich zu mir zurückbringt.«
»Gott hatte damit nichts zu tun«, entgegnete Talia.
Faziya zog sie nach unten und küsste sie noch einmal. Als Talia sich losriss, lächelte Faziya. »Du schmeckst nach Salz.« Sie rümpfte die Nase. »Riechen tust du allerdings nach Pferden und Blut.«
»Und du hast den Mundgeruch eines Schakals!«
Faziya runzelte die Stirn und sah an sich hinab. »Und ich bin nackt.«
»Ja, ist mir aufgefallen.« Talia ertappte sich dabei, gleichzeitig lachen und weinen zu wollen. Sie tat keines von beiden, sondern gab sich stattdessen
Weitere Kostenlose Bücher