Rotkäppchens Rache
»Zestans Elfen dürften schon unterwegs sein. Wenn wir sie treffen, sollten wir weit genug vom Tal weg sein, damit wir sie nicht zu den Kha’iida führen.«
Talia reichte Faziya das Seil. »Du kommst nicht mit, also frag nicht.«
»Ich weiß.« Faziya nahm ihre Hand. Ihre Haut war immer noch zu kühl, besonders jetzt, wo die Sonne beim Untergehen Schatten über das Tal warf. »Selbst wenn du durch irgendein Wunder nahe genug herankommst, um zuzuschlagen: Die Deev sind praktisch unmöglich zu töten. Ihre Haut ist undurchdringlich, außer durch Zauberei.«
Talia griff in ihr Gewand und zog eins von Roudettes Messern heraus. »Reines Eisen.«
»Das ist nicht genug!«, protestierte Faziya. »Für eine wie Zestan ist Eisen kaum mehr als eine Fliege auf der Nase; es wird ihre Haut nicht einmal ritzen.«
»Deshalb wählen wir uns ein Ziel, das nicht von Haut geschützt wird.« Talia schnippte das Messer hoch und fing es an der Klingenspitze wieder auf. Ein Ruck ihres Handgelenks, und es wirbelte durch die Luft und bohrte sich in den Stamm eines kleinen Buschs, der keine drei Finger dick war. »Erinnerst du dich noch daran, wie ich gelernt habe, ein Messer zu werfen? Ich brachte Wochen damit zu, zu üben, bis ich schließlich aus sieben Schritt Entfernung eine Klinge in einem Ziel von der Größe eines Menschenauges versenken konnte.«
»Ich erinnere mich«, bestätigte Faziya. »Den armen Feigenbaum hat es damals das Leben gekostet.«
»Das machte Mutter Khardija sehr deutlich, als sie meine Strafe verhängte.« Talia ging zu dem Busch, um das Messer wieder zu holen.
»Du tötest also Zestan. Und dann wird dich die Wilde Jagd mir wegnehmen.«
Talia schnippte mit den Fingern. »Wer weiß? Vielleicht wird sich mit Zestans Tod auch die Macht, die sie über sie hatte, verflüchtigen, und sie ziehen einfach weiter.«
»Das glaubst du doch selbst nicht!«
Talia sagte nichts. Faziya hätte die Lüge doch durchschaut.
»Kommst du jetzt oder nicht?«, rief Roudette.
Talia steckte das Messer weg und streckte die Hände aus. »Was wirst du jetzt machen?«
»Ich weiß noch nicht.« Faziyas Augen glänzten, aber den Kha’iida wurde früh beigebracht, nicht zu weinen: Das Wasser des Körpers war zu wertvoll, um es für Tränen zu verschwenden. Sie schlang das Seil um Talias Handgelenke. »Ich habe mit meinem Vater gesprochen.«
»Dein Vater lebt noch? Du hast nie erwähnt -«
»Bis Muhazil meine Verbannung aufhob, konnte er mich nicht einmal als seine Tochter anerkennen.« Faziya trat dicht an sie heran und legte den guten Arm von hinten um ihre Hüfte. »Dafür danke ich dir.«
Talia schloss die Augen, um ihre Nähe für einen Moment noch inniger zu genießen. Dann rief Roudette wieder, und der Moment verstrich. Sie wartete, bis Faziya das Seil verknotet hatte, und prüfte dann ihre Fesseln. Sie saßen fest, aber sie sollte gegebenenfalls imstande sein, sich zu befreien.
»Warte!«, sagte Faziya. »Weißt du noch, was du mir vor fünf Jahren an den Docks gesagt hast?«
Manche Erinnerungen waren so deutlich, dass sie sie hätte malen können. »Du hast mir das Versprechen abgenommen wiederzukommen. Faziya, ich kann nicht -«
»Ich weiß.« Faziya ging um sie herum und küsste sie. »Gib mir die Lüge.«
Talia berührte mit den Fingerspitzen ihr Gesicht. »Ich verspreche es.«
Ohne ein weiteres Wort wandte Faziya sich ab. Talia wollte noch etwas sagen, hielt aber inne. Das hier war nicht Lorindar, und Abschiedsgrüße waren etwas für Fremde.
*
Talia tat ihr Möglichstes, den Wasserschlauch mit gefesselten Händen zu handhaben. Roudette hatte auch noch eine Schlinge um ihren Hals gelegt; zum Teil sicherlich, um ihr heimzuzahlen, dass sie Roudette in der Villa der Raikh an die Leine genommen hatte. Die Schlinge saß so eng, dass das Schlucken unangenehm war, aber es gelang ihr trotzdem, ein wenig zu trinken, ehe sie Roudette den Schlauch zurückgab.
»Wir wären schneller vorangekommen, wenn wir die Pferde genommen hätten«, sagte Talia.
Roudette stürzte den größten Teil des restlichen Wassers hinunter. Selbst in der Nachtluft schwitzte sie unter ihrer Kapuze. »Pferde mögen mich nicht.«
»Kannst du dich überhaupt noch daran erinnern, wie es war, ein Mensch zu sein?«
»Ja.« Roudette schulterte den Wasserschlauch und erhöhte das Tempo. Sie hatten keinen Bestimmungsort. Das einzige Ziel bestand darin, sich so weit wie möglich vom Kha’iida-Lager zu entfernen. »Deshalb habe ich mich dazu
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