Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
Leine.«
3
Stina Forss hatte von Olsson, der die Waffen- und Asservatenkammer verwaltete, auf Nyströms Anweisung hin eine Dienstpistole erhalten – was mit der Auflage verbunden war, in den nächsten vier Wochen zwölf Stunden angeleitetes Schusstraining zu absolvieren. Und sie hatte einen provisorischen Arbeitsplatz im dritten Stock des Präsidiums, in dem die Kriminalpolizei ihre Räumlichkeiten hatte, zugewiesen bekommen. Aufgrund von Platzmangel hatte man sie in Knutssons Büro einquartiert. Der umständliche Ermittler benutzte seinen Computer nur, wenn es nicht zu vermeiden war, und nahm dort, wo es möglich war, mit einem vorsintflutlichen Faxgerät vorlieb, das er auf einem zweiten Arbeitstisch stehen hatte. Auf dem Rückweg aus Lessebo hatte sie an einem namenlosen Waldsee gehalten und war eine halbe Stunde geschwommen. Die Frische des dunklen Wassers hatte die letzte Müdigkeit aus ihrem Körper vertrieben. Zurück in Växjö hatte sie in einer Bäckerei in der Fußgängerzone gefrühstückt, dann hatte sie sich im Keller des Präsidiums in der Schießanlage eine Stunde lang mit der Handfeuerwaffe vertraut gemacht, bevor sie nach oben an ihren neuen Arbeitsplatz gegangen war. Als Knutsson gegen neun in das Zimmer gestampft kam, saß sie am Schreibtisch, vor sich hatte sie den braunen Trainingsanzug liegen.
»Warst du so früh schon joggen?«, fragte er.
»Mmmh ...?«
Seine dröhnende Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
»Was machst du da?«
»Nachdenken.«
Sie erzählte von dem nächtlichen Fund. Knutsson schien wenig beeindruckt.
»Tja, dann hatten die beiden wohl den gleichen Trainingsanzug. Ist das Puma?«
»Nein. Das ist es ja gerade. Es ist gar nichts. Weder Puma noch Adidas, noch Nike oder irgendwas anderes.«
»Vielleicht was Finnisches?«, schlug Knutsson vor. »Die haben da oben ihre ganz eigenen Marken und Bräuche und ...«
»Nö«, sagte Forss. »Nicht Finnisch, nicht Dänisch, gar nichts. Kein Markenemblem, kein Etikett, nichts, was einen Hinweis auf die Herkunft geben könnte. Nur hier, auf der Brust, siehst du die kleinen Löcher? Da war einmal etwas, ein Aufnäher, aber der ist vor langer Zeit entfernt worden. Ich meine, hast du schon einmal solche unmodischen Trainingsanzüge gesehen?«
»Ich weiß nicht. So ähnliche vielleicht, als ich klein war. Ich meine, Braun, Gelb, Rot – und dann der Schnitt. Ganz klar Siebzigerjahre, würde ich sagen.«
»Gelb und Braun – kannst nichts versaun«, murmelte Forss. Dann lauter: »Das Seltsame ist, dass ich diesen Anzug kenne. Dass ich so einen schon einmal gesehen habe, meine ich.«
»Und wo?«
»Das ist das Problem. Ich kann mich nicht erinnern.«
Knutsson überlegte kurz. Dann fiel ihm etwas ein: »Es gibt da diese speziellen Techniken. Yoga oder so.«
4
Die Spurensicherung hatte ihre Räumlichkeiten neben der Asservatenkammer im Keller des Präsidiums. Ingrid Nyström kam nicht oft hinunter in das laborähnliche Großraumbüro, in dem Bo Örkenrud mit seinem Team arbeitete und das wegen seiner niedrigen Deckenhöhe und den fehlenden Fenstern von manchen Kollegen scherzhaft die Grotte genannt wurde. Sie fand Örkenrud vor einem Computermonitor, neben ihm standen verschiedene Mikroskope, die zum Teil mit Rechnern verkabelt waren. Örkenrud wirkte aufgekratzt und gleichzeitig erschüttert – ungewöhnlich für den sonst so besonnenen Mann mit der kräftigen Statur eines Eishockeyverteidigers. Sie begrüßten sich. Der Schlafmangel hatte auch bei ihm Spuren hinterlassen, ein Schatten aus Bartstoppeln lag auf seinem Gesicht. Nyström konnte sich nicht erinnern, Örkenrud jemals zuvor unrasiert gesehen zu haben, dabei stand es ihm ganz gut, fand sie.
»Was für ein Massaker«, sagte er. »Was für ein gottverdammtes Massaker. Auch was die Spurenlage angeht. Aber wir haben Material ohne Ende gefunden. Massig DNA, aber vor allem Fingerabdrücke. Im Blut auf dem Körper des Leichnams, auf den Glasscheiben des Aquariums, auf dem Holz des Sessels, in dem der Tote saß. Natürlich habe ich die Ergebnisse sofort mit den Datenbanken abgeglichen.«
»Und?«
»Nichts. Niemand, der in Schweden jemals polizeilich registriert worden ist. Die Interpol-Abfrage läuft noch. Haare und Hautschuppen sind bereits unterwegs zur Analyse nach Linköping. Edman hat denen anscheinend richtig Dampf gemacht. Wenn es eine Übereinstimmung mit der Haarprobe vom Fall Dahlin gibt, erfahren wir es angeblich bis spätestens morgen. Nun ja, man darf gespannt
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