Rotzig & Rotzig
vergessenes Wohlbehagen nach mir greifen.
Dies hier waren exakt das Haus, die Küche, ja selbst die Vater- und Mutterfiguren, die man sich nur wünschen kann, sollte man jemals in eine Pflegefamilie kommen. Die beiden Streuner hatten es gut getroffen. Trotzdem waren sie zwangsweise hier, und ich wollte wissen, ob sie damit leben konnten.
„Ich hatte eigentlich gehofft, mal eben ein paar Worte mit den Jungs wechseln zu können.“
„Jetzt?“ Ann-Kathrin lachte. „Aber um diese Uhrzeit sind die Kinder doch alle in der Schule!“
„Schon?“
„Wie, schon?“ Sie lachte erneut. „Haben Sie mal auf die Uhr gesehen?“
„Nein, ich meinte schon im Sinne von ... dass die Jungs schon so kurz nach ihrer Ankunft hier wieder die Schule besuchen.“
„Oh, wir haben Schulpflicht, in Luxemburg, wie in Deutschland auch.“ Sie blickte versonnen aus dem Fenster. „Ist das Ihr Hund, dem unser Fritzi da nachstellt?“
Ich erhob mich kurz, folgte ihrem Blick und sah einen entnervt dreinblickenden kleinen grauen Hund durch den Schnee hoppeln, in mühelosem Trott verfolgt von einem schauerlich gebleckten gelben Gebiss, das nichts unversucht ließ, ihn bei seinem Stummelschwanz zu packen zu kriegen.
„Ein bisschen Bewegung tut ihm ganz gut“, behauptete ich.
Sie schnappte sich einen armlangen Kochlöffel und hob den Deckel von einem Kochtopf, in dem man auch einen Missionar garen könnte. Das führte auf einem kleinen Umweg zu der Frage, wie viele Kinder die Reiffs eigentlich beherbergten.
Sie musste nachrechnen. „Ein Dutzend zurzeit. Ja, seit der Ankunft von Yves und Sean sind es wieder exakt ein Dutzend. Genau die richtige Anzahl, finde ich immer. Wir haben Platz für bis zu fünfzehn, aber dann wird es eng.“
„Trotzdem muss das ganz schön stressig sein, mit so vielen Kindern unter einem Dach.“
„Ah, zum Glück sind sie alle in der Ganztagsschule. Und es ist auch ein Glück, dass man dort Schuluniformen hat. Das erspart uns eine Menge Ärger. Sie wissen schon: Style.“ Sie verdrehte kurz die Augen. „Hier im Haus tragen alle nur ganz schlichte, bequeme Sachen.“ Einen Moment lang grübelte ich darüber nach, wie ich ihr möglichst unauffällig den Namen der Schule aus dem Kreuz leiern sollte. Doch gar so viele Ganztagsschulen mit Uniformzwang würde es im Raum Echternach schon nicht geben. Da konnte ich auch Leyla fragen oder irgendjemanden auf der Straße. Versonnen schlürfte ich weiter meinen Kakao. Die Wände der Küche waren dekoriert mit Selbstgemaltem, vieles davon Mama gewidmet. „Haben Sie auch eigene Kinder?“
„Nein“, sagte sie fest, wie etwas, das man am besten sofort ausspricht.
„Bedauerlicherweise können wir beide keine Kinder bekommen“, sagte Jean-Luc Reiff von der Tür her, und ich zuckte zusammen. Er beäugte mich mit schräg gelegtem Kopf, die Gesichtszüge noch ein wenig verknittert vom Kopfkissen, die Augen noch ein wenig rot und verquollen vom abendlichen Bewirten der Geschäftsfreunde, das Kinn noch ohne morgendliche Rasur. „Herr Kryszinski“, sagte er langsam, „hatten wir nicht vereinbart, erst noch mal zu telefonieren, bevor Sie uns das nächste Mal besuchen?“
Ich stand auf, reichte ihm die Hand, lächelte entschuldigend. „Ich habe gestern irgendwie vergessen, das Päckchen für Yves und Sean dazulassen. Und da kam mir die Idee, dass Sie das Telefonat mit dem Mülheimer Jugendamt ja vielleicht direkt heute Morgen führen könnten ... Würde mir sechshundert Kilometer Fahrerei ersparen.“
Er bedachte das einen Moment und nickte dann wenig begeistert. „Wir gehen in mein Arbeitszimmer“, entschied er und winkte mir, ihm zu folgen. „Aber Schatz, möchtest du nicht erst einen Kaffee?“, rief Ann-Kathrin ihm hinterher. „Das dauert nicht lang“, antwortete er. Eingestimmt von der Küche hatte ich etwas altehrwürdig Holzgetäfeltes erwartet, doch Jean-Luc Reiffs Arbeitszimmer war, abgesehen von dem Sprossenfenster und der mit Leder bespannten Tür, nüchtern und hell. Chrom, Glas, Kunststoff, alles wirkte kühl und unpersönlich und war geprägt von dieser abstrakten PC-orientierten Arbeitsatmosphäre ohne einen Hinweis darauf, womit man sich hier beschäftigte. Kinderfotos beherrschten die Wände. Dazwischen gerahmte Dankschreiben, Zeitungsartikel, Fotos von Jean-Luc beim Händeschütteln mit mir nichts sagender Prominenz.
„Meine Frau und meine Sekretärin hängen das alles auf“, erklärte er und öffnete einen Wandsafe. „Wir haben doch schon
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