Rousseau's Bekenntnisse
krank, und muß erst seine Genesung abgewartet werden. Ich werde über Ihren Brief nachdenken. Bleiben Sie ruhig auf Ihrer Eremitage. Ich werde Ihnen seiner Zeit meine Ansicht zugehen lassen. Da sie in den nächsten Tagen sicherlich noch nicht abreist, so hat es keine Eile. Inzwischen können Sie, wenn Sie es für zweckmäßig halten, Ihre Anerbieten an sie richten, obgleich mir dies noch immer ziemlich einerlei vorkommt. Denn da sie Ihre Lage eben so gut kennt wie Sie selbst, so zweifle ich nicht, daß sie auf Ihre Anerbietungen antwortet, wie sie muß, und meines Erachtens ist dabei nichts zu gewinnen, als daß Sie denen, die Sie drängen, sagen können: wenn Sie nicht gewählt seien, so liege die Schuld nicht daran, daß Sie sich nicht angeboten hätten. Uebrigens begreife ich nicht, weshalb Sie durchaus verlangen, daß der Philosoph das Sprachrohr für alle Welt sein soll, und weshalb Sie sich einbilden, daß, weil Sie nach seiner Ansicht mitreisen müssen, auch alle Ihre Freunde dasselbe Ansinnen an Sie stellen. Wenn Sie an Frau von Epinay schreiben, kann Ihnen ihre Antwort als Erwiderung für alle jene Freunde dienen, da es Ihnen so sehr am Herzen liegt, eine Entgegnung an dieselben zu richten. Leben Sie wohl; ich grüße Frau Le Vasseur und den Criminal.« [Fußnote: Vater Le Vasseur, den seine Frau ein wenig straff hielt, nannte sie den Criminallieutenant. Grimm nannte die Tochter aus Scherz eben so und ließ später zur Abkürzung das zweite Wort fort.]
Bei der Lectüre dieses Briefes von Erstaunen ergriffen, forschte ich unruhig, was er eigentlich besagen konnte, und fand nichts. Wie? Statt mir einfach auf mein Schreiben zu antworten, nimmt er sich Zeit darüber nachzudenken, als ob die, welche er sich bereits genommen, noch nicht dazu genügt hätte. Er weist mich sogar auf die Spannung hin, in der er mich erhalten will, als ob es sich um die Lösung eines tiefen Problems handelte, oder als ob es in seiner Absicht läge, mir jedes Mittel zu rauben, seine wirkliche Ansicht zu erkennen bis zu dem Augenblick, wo er sie mir erklären wollte. Was bedeuten denn diese Vorsichtsmaßregeln, diese Zögerungen, diese Heimlichkeiten. Erwidert man so das geschenkte Vertrauen? Zeigt sich in einem solchen Benehmen Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit? Vergebens suchte ich nach einer günstigen Auslegung eines solchen Betragens; ich fand keine. Was auch immer seine Absicht sein mochte, seine Stellung erleichterte ihm, wenn er mir feindlich war, ihre Ausführung, ohne daß es mir in der meinigen möglich war, ihn daran zu hindern. Als Günstling in dem Hause eines großen Fürsten mit aller Welt bekannt und in unserm gemeinschaftlichen Gesellschaftskreise, dessen Orakel er war, den Ton angebend, konnte er mit seiner gewöhnlichen Geschicklichkeit in aller Gemächlichkeit seine Maßregeln treffen, während mir, in meiner Eremitage einsam und allein, fern von allen, ohne jemandes Rath, ohne irgend eine Verbindung, nichts andres übrig blieb, als abzuwarten und mich ruhig zu verhalten. Ich schrieb deshalb lediglich an Frau von Epinay wegen der Krankheit ihres Sohnes einen so freundlichen Brief, wie er nur irgend sein konnte, in welchem ich jedoch nicht in die mir gelegte Schlinge ging, ihr meine Reisebegleitung anzubieten.
Nach Jahrhunderten des Wartens erfuhr ich in der schmerzlichen Ungewißheit, in welche mich dieser grausame Mensch versetzt hatte, ungefähr nach Verlauf von acht oder zehn Tagen, daß Frau von Epinay abgereist wäre, und ich erhielt von ihm einen zweiten Brief. Er enthielt nur sieben oder acht Zeilen, die ich nicht bis zu Ende las ... es war ein Bruch, aber in Worten, wie sie nur der teuflischste Haß einzugeben vermag, und die sogar über das Bestreben zu beleidigen einfältig wurden. Er verbot mir, ihn zu besuchen, wie ein Monarch den Besuch seiner Staaten verbieten würde. Man hätte seinen Brief, um über ihn lachen zu müssen, nur mit größerer Kaltblütigkeit zu lesen brauchen. Ohne ihn abzuschreiben, ohne ihn auch nur zu Ende zu lesen, sandte ich ihm denselben auf der Stelle mit folgendem Begleitschreiben zurück:
»Ich entschlug mich meines gerechten Mißtrauens; zu spät habe ich Sie völlig kennen gelernt.
»Sie erhalten anbei den Brief, den Sie sich die Muße genommen haben, nach gründlicher Ueberlegung abzufassen; ich sende ihn Ihnen zurück, für mich ist er nicht. Sie können den meinigen der ganzen Erde zeigen und mich offen hassen; dies wird von Ihrer Seite eine Falschheit weniger
Weitere Kostenlose Bücher