Rousseau's Bekenntnisse
ließ mich alle sein mir angethanes Unrecht vergessen, und als er bei meiner Rückkunft von Genf soeben selbst von einer Reise durch Frankreich, die er mit Grimm und andern Freunden zu seiner Zerstreuung unternommen hatte, heimgekehrt war, machte ich ihm einen Besuch und wiederholte ihn öfters, bis zu meiner Abreise nach der Eremitage. Als man in seinem Umgangskreise erfuhr, daß mir Frau von Epinay, die ihm bis dahin noch unbekannt war, daselbst eine Wohnung bereitete, regneten die Spöttereien hageldicht auf mich hernieder, indem man mir zu verstehen gab, daß ich bei meinem Bedürfnisse nach Weihrauch und den städtischen Vergnügungen die Einsamkeit keine vierzehn Tage aushalten würde. Da ich wußte, wie es in dieser Beziehung mit mir stand, ließ ich sie reden und mich dadurch nicht im geringsten stören. Herr von Holbach unterließ nicht, mir gefällig zu sein, [Fußnote: Das ist wieder ein Beispiel von den Streichen, die mir mein Gedächtnis spielt. Erst lange nachdem ich dies geschrieben, bringe ich in einem Gespräche mit meiner Frau über ihren guten alten Vater in Erfahrung, daß es keineswegs Herr von Holbach, sondern Herr von Chenonceaux, damals einer der Verwalter des Hôtel Dieu, war, der seine Aufnahme in dasselbe bewirkte. Ich hatte den letzteren so vollkommen vergessen und Herrn von Holbach dagegen so lebhaft in der Erinnerung behalten, daß ich darauf geschworen hätte, ich verdankte ihm diesen Liebesdienst.] und verschaffte dem ehrlichen alten Le Vasseur, der mehr als achtzig Jahre zählte, und von dem zu befreien mich seine Frau, die sich durch ihn sehr beschwert fühlte, unaufhörlich bat, ein Unterkommen. Er wurde einem Armenhause übergeben, wo ihn sein Alter und der Schmerz über die Trennung von seiner Familie fast unmittelbar nach seiner Ankunft in das Grab brachten. Seine Frau und seine übrigen Kinder betrauerten ihn wenig; Therese dagegen, die ihn zärtlich liebte, hat sich nie über seinen Verlust wie über ihre Einwilligung dazu trösten können, daß er, seinem Ende so nahe, fern von ihr seine Tage vollenden sollte.
Ungefähr um die nämliche Zeit bekam ich einen höchst unerwarteten Besuch, obgleich es eine sehr alte Bekanntschaft war. Ich spreche von meinem Freunde Venture, der mich eines schönen Morgens überraschte, als ich an nichts weniger dachte. Ein anderer Mann erschien mit ihm. Wie verändert kam er mir vor! Statt seiner alten Anmuth bemerkte ich an ihm nur ein wüstes Wesen, das mich von einem herzlichen Entgegenkommen zurückhielt. Entweder waren meine Augen nicht mehr dieselben, oder sein ausschweifendes Leben hatte ihn verdummt, oder sein ganzer früherer Glanz beruhte nur auf dem Glanze der Jugend, die jetzt vergangen war. Ich sah ihn fast mit Gleichgiltigkeit, und wir schieden ziemlich kalt von einander. Allein nach seiner Entfernung rief das Andenken an unser früheres freundschaftliches Verhältnis die Erinnerung an meine jungen Jahre, die jener jetzt freilich nicht weniger als er verwandelten engelgleichen Frau so zärtlich und keusch gewidmet waren, auf das lebhafteste wieder in mir wach. Die kleinen Ereignisse aus dieser glücklichen Zeit, der selige so unschuldig und doch so genußreich in Gesellschaft zweier reizenden Mädchen in Toune verlebte Tag, an dem ich als einzige Gunst eine Hand zu küssen bekam und der trotzdem eine so leidenschaftliche, so rührende, so anhaltende Sehnsucht in mir zurückgelassen hatte; alle diese entzückenden und berauschenden Träume, die ich damals in ihrer ganzen Kraft empfunden und deren Zeit ich für immer entschwunden wähnte: alle diese zärtlichen Erinnerungen entlockten mir Thränen über meine entflohene Jugend und ihre mir jetzt für immer verlorene Seligkeit. Ach, wie viele würde ich über die späte und unheilvolle Rückkehr dieser Seligkeit vergossen haben, hätte ich die Leiden vorausgesehen, die sie mich kosten sollte!
Bevor ich Paris verließ, hatte ich den Winter vor meiner Uebersiedelung eine Freude ganz nach meinem Herzen, die ich in ihrer vollen Reinheit empfand. Palissot, ein durch einige Schauspiele bekannt gewordenes Mitglied der Akademie von Nancy, hatte in Luneville eines derselben vor dem König von Polen aufführen lassen. Offenbar glaubte er sich in Gunst zu setzen, wenn er in diesem Stücke einen Mann auftreten ließ, der es gewagt hatte, sich mit dem Könige in einem Federkriege zu messen. Stanislaus, der edelmüthig und kein Freund der Satire war, wurde entrüstet, daß man in seiner Gegenwart
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