Rubinsteins Versteigerung
neunzigjährige Sara, Frau des Patriarchen Abraham, sprach nach der Geburt ihres Sohnes: »Jeder, der von der Niederkunft des Knaben vernehmen wird,
wird lachen.
« Was rege ich mich auf? Niemand verbietet mir, mich Jonathan Isaak oder Yitzhak zu nennen. Aber auch ich bin zu feige, auch ich möchte kein Itzig sein.
Irgendwann wird auf meinem Grab der gleiche Name gemeißelt sein. So stehe ich vor zwei Gräbern: dem meines Ur-Ur-Großvaters Isaak und seines neurotischen NachfahrenJonathan. Wird auch vor meinem Grab in hundert Jahren ein Rubinstein Kaddisch sagen, Steine legen und um Rat flehen, wie er dieses chaotische Leben meistern soll? Wo wird mein Grab überhaupt liegen? Hier nicht! Ichenhausen ist seit fast 30 Jahren judenrein. Es darf aber auch nicht in München sein! Nirgends in diesem Scheißland! Unwillkürlich schlinge ich meine Arme um den Stein und presse meine Stirn dagegen. Was habe ich mit diesem Typen gemein, außer dem Namen? Hat er es einfacher gehabt? Sein Lebensweg jedenfalls war eindeutig vorbestimmt. Strenger Gehorsam gegenüber den Eltern und Einhaltung der religiösen Gebote. In der ›Liebe‹ war auch alles klar: Die Burschen mussten die Mädchen heiraten, die ihnen ihre Alten ausgesucht hatten, ihnen treu sein und mit ihnen eine Menge Kinder zeugen. Einziges Ziel im Beruf war, möglichst viel Kohle zu machen. Das hat er auch geschafft: Als Geldverleiher verdiente er so viel, dass er sich das größte Haus in Ichenhausen hinsetzen konnte. Die Bauern werden ihn wegen seiner Wucherzinsen und seines Glaubens gehasst haben, aber was soll’s? Er hat gewiss gut an ihnen verdient. Und ihre Judenfeindschaft wird ihn auch nicht übermäßig erschüttert haben. Seit Generationen kannten die Juden nichts anderes. Die Massaker der Kreuzzüge waren fast vergessen, und die fabrikmäßige Massenvernichtung der SS war noch nicht erfunden. Was kann ich heute, in der Nachauschwitzära, in der jüdische Eltern ihren Kindern statt Tradition und Religion Neurosen anerziehen, von Isaak Jonathan Rubinstein lernen?
Dass es weitergeht, Kerl! Unsere Familie hat überlebt. Friedrich hat alle nach Israel in Sicherheit gebracht. Dass erspäter nach Deutschland zurückging, war Scheiße. Jetzt habe ich es in der Hand, diesen Schritt wieder rückgängig zu machen. Und ich habe auch die Kraft dazu – verdammt noch mal! Statt mich wegen Hilde verrückt zu machen, muss ich mich eben einige Wochen ranhalten. Dann ist der ganze Mist vorbei, und ich kann ins Gelobte Land ziehen.
Ich sage das Kaddisch. Nachdem ich den Stein noch einmal mit den Lippen berührt habe, gehe ich weiter. Isaaks Grab liegt fast unmittelbar an der Nordostecke des Friedhofs. Das Gelände ist hier am steilsten. Entlang des Zaunes bahne ich mir meinen Weg nach unten. Zu meiner Rechten ziehen sich die Grabreihen. Die Steine, meist aus der Zeit vor der Jahrhundertwende, sind erstaunlich gut erhalten. Diesen Friedhof haben die Nazischweine ausnahmsweise in Ruhe gelassen. Endlich bin ich unten.
Ich überquere noch einmal den Wiesenstreifen, der das alte Aussegnungshäuschen umgibt. Rechts liegen die schmalen Grabplatten der in den Jahren zwischen 1939 und 1942 Verstorbenen mit ausschließlich deutschen Schriftzeichen. Hebräische Buchstaben durften damals im Deutschen Reich nicht verwendet werden. Dazwischen vereinzelt Steine, die Angehörige von in Vernichtungslagern Ermordeten unmittelbar nach Kriegsende anlegen ließen. Eine Reihe tiefer auch hier KZ-Gräber. An den hellgrauen Betonsteinen hängen zwischen roten Winkeln schwarze Marmortafeln. Die eingestanzten hebräischen Buchstaben nennen jeweils drei bis vier Namen. Die Toten waren Häftlinge eines KZ-Außenlagers bei Burgau. Sie kamen aus Budapest, keiner erreichte das 30. Lebensjahr. Alle starben in den letzten Märztagen des Jahres 1945. Über denNamen die biblische Mahnung: »Gedenke, was dir Amalek, der Erzfeind der Juden, antat.« Und wie ich daran denke! Ich hole einige Kieselsteine und lege sie vor die Umfriedung der Gräber. Ich sage kein Kaddisch. Die unbedingte Lobpreisung des Herrn, der dies zugelassen hat, ist mir vor diesen Gräbern nicht möglich. Hier liegt deine Familie, dein Volk, zu dem du zurückkehren wirst, aber bis dahin darfst du nicht vergessen! Du musst die Zeit nutzen, Rubinstein! Ich schwinge mich über das Tor und schlendere zum Auto. Die Sonne ist inzwischen fast am Horizont versunken. Der Himmel wird im Westen von rotgoldenen Strahlen durchzogen.
Ich muss mich auf
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