Rückgrad
ekelerregenden Brodem voran. Ich mußte eine ganze Weile gehen, bis mir die frische Luft gut tat, bis meine Migräne unter der Wirkung von etwas eisigem Schweiß fast gänzlich verflog.
Ich erinnerte mich nicht, daß ich beschlossen hatte, den Weg zum Gymnasium einzuschlagen, aber ich geriet mitten darauf. Manchmal habe ich den Eindruck, ganz gleich, wo ich bin, und ohne überhaupt zu wissen, wo er ist, könnte ich aufstehen und schnurstracks Richtung Hermann gehen, das ist eine Sache, die ist mir unerklärlich, aber es ist so. Das ist komisch, und keiner wundert sich darüber mehr als ich. Es bedarf bloß einer Kleinigkeit, schon erwacht in mir dieser tierische Reflex. Meistens weiß ich nicht einmal, was ihn ausgelöst hat.
Ich erblickte Max, als ich am Gitterzaun des Sportplatzes vorbeikam. Er hatte eine ganze Klasse auf den Rücken gelegt, und die Ärmsten radelten in der Luft, die Hände hinter dem Kopf. Man sah nichts als rote Backen, Fratzen und heraushängende Zungen, ich hörte Max fragen, was sie eigentlich für Schlappschwänze seien, zumal sie noch gut fünf Minuten durchhalten müßten, aber mindestens. Trockene Blätter flogen auf und wirbelten um sie herum.
Ich rief ihn, er machte sie darauf aufmerksam, daß er seine Uhr beobachten und weiter ein wachsames Auge auf sie haben werde, selbst wenn es nicht den Anschein hatte. Dann trabte er auf mich zu.
- Du solltest halblang machen, sagte er zu mir. Ich weiß nicht, ob du dich im Spiegel betrachtet hast, aber du siehst aus, als pfiffste aus dem letzten Loch …
- Jaja, aber anders, als du denkst. Marianne Bergen, du weißt schon, das Mädchen, das gestern bei uns war, stell dir vor, die liegt im Krankenhaus. Sie ist vergewaltigt worden, man hat sie halbtot aufgefunden!
Er sperrte den Mund auf, ohne einen Ton zu sagen, dann packte er langsam die Gitterstäbe.
- Tja, jetzt siehst du auch nicht gerade gesund aus …
- Mach keinen Quatsch …
- Nein. Nicht bei solchen Dingen.
- Verdammt nochmal … Ich kann’s kaum glauben … Wie das denn …?
- Keine Ahnung. Der Typ hat ihr dermaßen eins über den Kopf gezogen, daß er sie fast umgebracht hätte.
- Ach du Scheiße …
Hinter ihm hatten seine Schüler aufgehört zu radeln, und die letzten kippten röchelnd um wie die Fliegen. Ich wollte Hermann auf keinen Fall verpassen und hatte auch nicht viel hinzuzufügen, außer daß wir uns später sähen und daß er sämtliche Einzelheiten bestimmt aus der Zeitung erfahren werde. Er nickte und warf mir einen langen, leeren Blick zu, dann wankte er wortlos zu seinem Spielfeld zurück, wo die Gymnastik in vollendeter Eintracht im gleichen Moment wieder aufgenommen wurde.
Hermann wirkte überrascht, wenn nicht gar verärgert, mich zu sehen, und er hatte guten Grund dazu. Wir standen uns unverhofft genau an der Straßenecke gegenüber, Auge in Auge, und ich war mir fast sicher, daß er im gleichen Moment Gladys’ Hand losgelassen hatte, aber ich hätte es nicht beschwören können, naja, jedenfalls waren sie zusammen, und zusammen kehrten sie zurück, und weit und breit kein Richard zu sehen. In puncto Reaktion sind die Mädchen stets eine Nasenlänge voraus, und in puncto Ablenkungsmanöver fiel mir Gladys um den Hals.
- Oh! Tag, Dan!
- Nanu, was machst du denn hier …?
- Och, nichts Besonderes. Ich bin spazieren gegangen, und ich hab mir gedacht, du gehst bestimmt vor Freude in die Luft, wenn dich dein Vater abholt … Täusche ich mich etwa?
Er entschloß sich zu lächeln. Ich hätte das gern bis zum Schluß mitbekommen, aber ich paßte auf, daß mein Blick nicht allzu eindringlich wurde.
- Sollen wir hier stehenbleiben? fragte er.
- Nein, aber versucht nicht, mich abzuhängen, sagte ich.
Offiziell hatte Franck mich verlassen, weil ich angefangen hatte zu trinken, sie behauptete, ich sei nicht mehr der Typ, den sie geheiratet habe, und in gewisser Weise hatte sie recht. Ich hatte mich für einen Schriftsteller gehalten, und der Erfolg tat ein übriges, ich glaubte wahrhaftig daran, bis zu dem Tag, an dem ich nicht mehr in der Lage war, auch nur eine Zeile zu schreiben, und ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, was mit mir geschehen war.
Im Grunde war es so entsetzlich nicht, kein wahrer Schriftsteller zu sein, es gibt wichtigere Dinge im Leben, aber zu jener Zeit faßte ich das sehr übel auf, ich hatte Lust, ihn gegen die Mauern zu schmettern, diesen Schädel, aus dem nichts mehr herauskommen wollte, ich heulte vor Wut und verfluchte
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