Rueckkehr ins Leben
sein Vater losgegangen, wurde auch das Dorf angegriffen und Musa rannte weg. Seitdem lief er ununterbrochen weg.
Alhaji war am Fluss gewesen, als die Rebellen angriffen.
Er rannte so schnell er konnte nach Hause. Dort angekom-
men, stand er vor dem leeren Haus und rief die Namen seiner Eltern, seiner beiden Brüder und seiner Schwester.
Kanei war mit seinen Eltern geflohen, aber er hatte seine beiden Schwestern und seine drei Brüder in dem Chaos verloren. Er und seine Eltern waren mit vielen anderen in ein Boot gesprungen, um den Fluss Jong zu überqueren. Als sich das Boot in der Mitte des Flusses befand, schossen die Rebellen vom Ufer aus auf die Menschen im Boot, woraufhin Pa-
nik ausbrach und das Boot kenterte. Kanei schwamm so
schnell er konnte auf die andere Seite des Flusses. Als er sich an Land zog, sah er Menschen im Wasser ertrinken oder
schreiend darum kämpfen, nicht unterzugehen. Die Rebellen lachten über die sterbenden Menschen. Er weinte die ganze Nacht, als er den Überlebenden folgte, die zu einem Dorf
weiter unten am Fluss liefen. Dort erzählte man Kanei, seine 91
Eltern seien durch das Dorf gekommen. Die Hoffnung, seine Familie irgendwann doch noch zu finden, hatte Kanei über
Monate in Bewegung gehalten.
Jumah und Moriba hatten nebeneinander gewohnt. Die
Panzerfäuste hatten beim Angriff ihre Häuser zerstört. Sie waren zum Kai gerannt, um ihre Eltern zu suchen, die Händler waren, hatten sie aber nirgends finden können. Sie rannten in den Wald an die Stelle, an der sich ihre Familien zuvor versteckt hatten, doch auch dort waren sie nicht.
Saidus Familie hatte die Stadt während des Angriffs nicht verlassen können. Mit seinen Eltern und seinen drei
Schwestern, die neunzehn, siebzehn und fünfzehn Jahre alt waren, versteckte er sich nachts unter dem Bett. Am Morgen brachen die Rebellen in das Haus ein und fanden seine Eltern und seine drei Schwestern. Saidu war auf den Dachboden geklettert, um den restlichen Reis für die Reise zu holen, als die Rebellen hereingestürmt kamen. Saidu blieb auf dem Dachboden sitzen, hielt die Luft an und lauschte
den Schmerzensschreien seiner Schwestern, die von den
Rebellen vergewaltigt wurden. Sein Vater schrie, sie sollten aufhören, und einer der Rebellen schlug ihn mit dem Gewehrkolben. Saidus Mutter weinte und entschuldigte sich
bei ihren Töchtern, dass sie sie zur Welt gebracht hatte, nur damit sie Opfer solchen Wahnsinns wurden. Nachdem die
Rebellen die Schwestern wieder und wieder vergewaltigt
hatten, schnürten sie den Besitz der Familie zusammen und ließen Vater und Mutter das Bündel tragen. Die drei Mädchen nahmen sie mit.
»Bis zu diesem Tag trage ich den Schmerz in mir, den
meine Schwestern und meine Eltern empfanden. Als ich run-
terkletterte, nachdem die Rebellen gegangen waren, konnte ich nicht stehen und meine Tränen gefroren mir in den Augen. Ich hatte das Gefühl, als würden mir die Adern brutal aus dem Körper gezogen. Ich spüre das noch immer ständig, weil ich nicht aufhören kann, an diesen Tag zu denken. Meine Schwestern haben nie jemandem etwas angetan«, sagte
Saidu, nachdem er uns eines Abends in einem verlassenen
Dorf die ganze Geschichte erzählt hatte. Während ich ihm
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zuhörte, bekam ich einen üblen Geschmack im Mund. Das
war der Moment, in dem ich begriff, weshalb wir immer alle so still waren.
»Wir sollten weitergehen«, sagte Kanei traurig und klopfte sich die Hosen ab. Wir hatten uns darauf geeinigt, nachts zu gehen. Tagsüber konnten wir Essen suchen und abwechselnd
schlafen. Nachts hatten wir das Gefühl, mit dem Mond zu
gehen. Er folgte uns unter dichten Wolken hindurch und
wartete am anderen Ende dunkler Waldwege auf uns. Er ver-
schwand mit dem Sonnenaufgang, kehrte aber immer zurück
und hing in der folgenden Nacht wieder über unseren We-
gen. Seine Helligkeit wurde im Verlauf der Nächte eintönig.
In manchen Nächten weinte der Himmel Sterne, die kurz
über das Firmament huschten und dann in der Dunkelheit
verschwanden, noch bevor sie unsere Wünsche entgegen-
nehmen konnten. Unter diesen Sternen und diesem Himmel
hatte ich früher Geschichten gehört, aber jetzt schien es, als würde uns der Himmel eine Geschichte erzählen, während
seine Sterne fielen und gewaltsam aufeinanderprallten. Der Mond versteckte sich hinter Wolken, damit er nicht mit an-sehen musste, was geschah.
Tagsüber ging die Sonne nicht mehr wie zuvor allmählich
auf. Sie strahlte hell von der
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