Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition)
seine Gesichtszüge. Wären die lohfarbenen Haare und die auffallend grauen Augen nicht gewesen, hätte sie ihn nicht erkannt.
»Sanburne!«
Der Viscount ließ sie nicht aus den Augen, während er sprach. »Ach, sieh mal, Lizzie.« Sein Ton war unerwartet salopp. »Eine Heldin kommt, um dich vor dem Brandy zu retten.«
6
Lydia zögerte. Frische Wunden kerbten Sanburnes Gesicht ein, sodass er aussah wie ein Pirat. Ihr erster Impuls war, der Angreiferin zu gratulieren, ihr zweiter, sich zu fragen, ob sie nicht lieber die Frau bedrohen sollte. Um jemandem eine solche Tracht Prügel zu verabreichen, brauchte es eine Menge Kraft.
Sanburne registrierte ihre Unentschlossenheit, deutete sie jedoch falsch. »Achten Sie darauf, ein bisschen Kraft hineinzulegen, Miss Boyce. Ich möchte nur ungern dabei zusehen, wie Sie sich den Zeh stoßen.«
Raschelnde Seide lenkte sie ab. Die Lady, vormals mit dem Gesicht zu Boden, drückte sich nun in eine aufrechte Position. Arme und Gesicht waren unverletzt, doch aufgrund der unsanften Behandlung saß ihre Frisur jetzt schief und ihre kastanienbraunen Locken fielen ihr über die Schultern.
Als sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich, schnappte Lydia nach Luft. Es war Mrs Chudderley, die Berufsschönheit, Gerüchten zufolge Sanburnes Verlobte. Ein unangenehmes Gefühl machte sich in ihr breit. Die Frau war in natura sogar noch schöner als auf den Fotografien. Hatte sie irgendeine Vorstellung davon, was ihr Verlobter trieb, wenn er mit anderen Frauen in seinem Studierzimmer eingeschlossen war?
»Verdammt!«, rief die Frau aus. »Verflixte Turnüre. Sie hat sich verdreht. James, hilf mir!«
»Zieh sie doch selber grade.« Der Viscount ließ sich auf ein Sofa plumpsen, streckte die Beine aus und kreuzte sie an den Knöcheln. »Gott allein weiß, dass du immer Beschäftigung brauchst.«
» Dich hat hier niemand hergebeten«, schoss die Frau zurück. Sie sprach undeutlich, als wäre sie gerade aus einem tiefen Schlaf erwacht. »Ich bin sehr … gut allein klargekommen.«
Lydias Finger um den Kerzenhalter zuckten. Irgendetwas stimmte hier nicht. Ihr war schrecklich unbehaglich zumute, als wäre sie auf eine Bühne gestolpert, wo gerade ein Theaterstück im Gange war, und die Schauspieler, die anderweitig beschäftigt waren, erwiesen ihr die Freundlichkeit, sie zu ignorieren.
»Bevor oder nachdem du ins Wasserklosett gepurzelt bist?«, fragte Sanburne.
»Ich bin nicht gepurzelt .« Mrs Chudderley sackte wieder auf dem Teppich zusammen. Ihre Worte hörten sich jetzt gedämpft an. »Sondern ausgerutscht.«
Was hatte er noch gesagt, als sie hereinkam? Lydia wurde ganz anders. Gekommen, um dich vor dem Brandy zu retten.
Ach herrjemine! Sie schluckte und legte ihre Waffe auf den Boden. Der Viscount quittierte die Geste mit einem hämischen Grinsen. »Sieh nur«, sagte er zu Mrs Chudderley. »Selbst deine Retterin verzweifelt an dir.«
Was für eine Närrin sie doch war! Ihre Wangen brannten vor Scham. Was hatte Sanburne nur an sich, dass er sie stets in diese peinlichen Situationen brachte? »Entschuldigen Sie die Störung. Ich werde … jetzt einfach gehen.«
Der Viscount setzte sich jäh auf. »Verzeihung, Miss Boyce, haben wir Sie ignoriert? Ich entschuldige mich dafür, seine Nemesis darf man nicht vernachlässigen.« Ohne aufzustehen, vollführte er eine tiefe Verbeugung, die seine Brust auf seine Knie sinken ließ.
»Miss Boyce?« Mrs Chudderley rollte sich auf die Seite, um sie anzusehen, wobei eine juwelenbesetzte Haarnadel von ihrem schlaffen Kopf rutschte und funkelnd auf den Läufer fiel. »Der Blaustrumpf?«
Lydia verzog das Gesicht. Sie war keine einfältige Autodidaktin, doch die Menschen waren nicht davon abzubringen, sie in diese Schublade zu stecken. »Guten Abend Ihnen beiden.« Sie machte kehrt und wandte sich zur Tür.
»Warten Sie!«, rief die Frau gereizt. Lydia warf einen Blick zurück. Mrs Chudderley machte ein verzweifeltes Gesicht, riss Mitleid heischend die Augen auf und klimperte mit den Wimpern. Ihr Pech, dass Lydia gegen solche Mätzchen schon immun war, als Antonia sechs wurde. »Helfen Sie mir«, flehte die Dame.
Ihre Wasserfallröcke waren in der Tat merkwürdig zur Seite verdreht. Zweifellos eine dieser neuen Turnüren. Die gerechte Strafe dafür, dass sie dazu beitrug, eine derart absurde Mode einzuführen. »Bringen Sie es doch selbst in Ordnung.«
Die Frau schluchzte auf. »Himmelherrgott«, stöhnte Sanburne, ließ sich nach hinten
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