Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition)
das bestätigt meine Meinung von Ihnen. Es ist wenig originell, durchschaubar und unfassbar dumm.«
Er hatte die Luft angehalten und stieß sie jetzt aus. »Nun.« Mit dem Riesenschluck, den er trank, leerte er sein Glas zur Hälfte. »Und ich dachte, ich wäre in Gesellschaft einer Freundin hier. Stattdessen bekomme ich eine Predigt gehalten.«
»Ich mag Sie durchaus«, sagte sie langsam und fragte sich schon im selben Moment, ob dieses Eingeständnis klug war. »Aber ich gebe zu, dass es mir sehr schwerfällt, Sie zu respektieren. Sie haben großes Potenzial. Aber Sie vergeuden es, trotz Ihrer vielen Möglichkeiten.«
»Potenzial«, sagte er matt. »Ja, vermutlich habe ich eine Menge davon. Immerhin erbe ich irgendwann, bevor ich fünfzig werde, zweihunderttausend Morgen Land. Denken Sie nur, wie viele Schafe ich dort züchten könnte.«
»Selbstmitleid finde ich auch sehr degoutant.«
»Dabei sind Sie selbst so gut darin. Wie sollte man es sonst nennen, Lydia, wenn eine faszinierende Frau sich für einen langweiligen Bücherwurm hält?«
»Flirten Sie nicht mit mir. Wir führen ein ernstes Gespräch.«
»Ich kann nicht anders. Ihre Idiotie provoziert mich.«
Sie senkte den Kopf, um das leise Lächeln zu verbergen, das ihr übers Gesicht huschen wollte. Merkwürdig, dass sie sich seine Anschuldigungen anhören konnte, ohne es ihm übel zu nehmen. Mit einem Finger fuhr sie über die kurvige Maserung der Tischplatte. Jemand hatte seine Initialen ins Holz geritzt: DSR Aug. 81 . Es war so tief eingeritzt, dass es wohl nicht in einer einzigen Sitzung entstanden war, sondern im Laufe mehrerer Abende. Doch irgendwann würden die Tische abgeschliffen. Das musste dem Holzritzer klar gewesen sein, schon während er sich abmühte.
Dieser Gedanke löste in ihr eine Traurigkeit aus, die dem Anlass nicht angemessen war. Jeder wollte seine Spuren hinterlassen, selbst die Stammkunden eines Gin Palace. Doch für die meisten Menschen war ihr Name auf dem Grabstein der einzig bleibende Beweis ihrer Existenz. »Sie haben doch so viele Möglichkeiten«, sagte sie leise. »Da ist Schafzucht wirklich die geringste davon.«
»Ach, ganz und gar unnütz bin ich nicht. Meine Fabriken sind nicht … « Als er verstummte, blickte sie auf und zog fragend die Augenbrauen hoch. Er schüttelte den Kopf. »Ich hätte nichts dagegen, Ihren Respekt zu besitzen, Lydia. Aber um ehrlich zu sein, glaube ich nicht, dass ich das Zeug oder gar die Lust dazu habe, ihn mir zu verdienen. Es würde nämlich meine ganze Routine durcheinanderbringen.«
Diese Bemerkung sollte wahrscheinlich gar nicht grausam sein, doch selbst als Ausdruck seiner Selbstironie traf sie sie wie ein Peitschenschlag. »Schön und gut«, sagte sie energisch. »Und ich habe ganz gewiss nicht die Absicht, Sie zu unterhalten.« Und dann, in dem Bemühen, sich zwanglos zu geben, als wütete in ihrem Inneren nicht ein obskurer Schmerz, hob sie ihren Krug an den Mund und trank einen Schluck von der Flüssigkeit, deren Natur ihr vorübergehend entfallen war.
Es brannte. Hustend und nach Luft schnappend setzte sie den Krug wieder ab. Ihre Finger gruben sich in die Schnitzerei und gaben ihr Halt, während sie sich bemühte, nicht zu würgen.
Wie er sich das Lachen verkniff, war bewundernswert. »Nun?«, fragte er. »Cream of the Valley. Cremig oder nicht?«
Die Flüssigkeit zog einen Feuerpfad durch ihre Kehle bis in ihren Magen. Unten angekommen, verströmte sie ein gar nicht so unangenehmes Gefühl. Tranken die Leute es deshalb? »Nicht cremig.« Jetzt grinste er. Wenn er ihren Respekt nicht wollte, brauchte sie sich auch seinen nicht zu verdienen. Doch jetzt war sie fasziniert. Sie nippte noch einmal an dem Gin. Dieser Schluck ging leichter herunter. Der bittere Geschmack entsprach ihrer Stimmung. »Eher wie ein Stück glühende Kohle«, beschloss sie.
»Na ja. ›Kohlen aus dem Feuer‹ klingt natürlich nicht so gut.«
Ein Kichern entfuhr ihr. Schockiert über sich selbst, fasste sie sich an die Lippen. Doch, der Laut war von ihr gekommen. »Wird man so schnell betrunken?«
Er grinste. »Höchst unwahrscheinlich. Warum? Wollen Sie sich denn betrinken?«
Sie hatte bereits den Mund geöffnet, um ihm zu antworten, als sie durch den gewölbten Durchgang die Frau von der Zeichnung entdeckte: eine schlanke, braunhaarige Frau von mittlerer Größe mit listigen Augen. »Das ist sie«, rief sie und sprang auf. »Das ist Miss Marshall.«
Nichts an Polly Marshalls Auftreten wies auf
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