Rütlischwur
Haus. Dabei stellte er seine Rosenstöcke vor, sprach über sie wie ein stolzer Vater, der seine gutgeratenen Kinder ins allerbeste Licht rücken möchte: »Gilde … Thisbe und Schön Ingeborg.« Bei einem Stock mit violetten Blüten blieb er stehen. Er wirkte müde, anders als noch in Einsiedeln sah Eschenbach ihm sein Alter sofort an. Vielleicht waren es aber auch nur die Strapazen der Rückreise, die ihre Spuren hinterlassen hatten. »Das ist Judiths Lieblingsstrauch. Ihren Namen hat die Rose von der französischen Dichterin Anaïs Ségalas, geboren am 21. September 1819 in Paris, als Tochter des Charles Menard und der Kreolin Anne Bonne Portier …«
Eschenbach war froh um diesen Ausflug in die Sphären irrelevanter Rosennamen. Er gewann Zeit. Und mit der Zeit, so hoffte er, würde sich sein Verstand wieder melden, dieser liederliche Kerl.
»Mit 15 Jahren heiratet Anaïs den Rechtsanwalt Victor Ségalas, aber sie stellt die Bedingung, dass sie sich weiterhin mit Literatur beschäftigen darf. So wird ein Jahr später ihre erste Gedichtsammlung veröffentlicht. Anaïs war für ihre Zeit eine sehr emanzipierte Frau, die eigene Entscheidungen traf. Sie glaubte fest daran, dass auch Frauen das Recht haben, ihre Talente zu entfalten.«
Ein Anwalt, der einer Rose seinen Namen gibt. Der Kommissar fand den Gedanken verwirrend.
Als sie den Garten hinter sich gelassen hatten, verschwand der schwärmerische Unterton in Billadiers Stimme. »Die Rosen hier sind mein wirkliches Exil«, begann er nüchtern. »Nachdem mich der Bundesrat 1979 zum Teufel gejagt hat – frühzeitig in den verdienten Ruhestand, um es mit den Worten von Chevallaz zu sagen. Ich bin damals eine Zeitlang verschwunden. Brodie ist mir in dieser Zeit ein treuer Kamerad gewesen. Sie haben ihn ja kennengelernt. Ein netter Kerl. Als wir vorhin telefoniert haben, na ja, Sie vertragen wohl etwas. Sechs Doppelte … Da gibt es nicht viele, die dann noch ins Auto steigen.«
Eschenbach räusperte sich etwas verlegen und hielt die Hand vor die Augen, weil die Sonne ihn blendete.
»Ihren Veston haben Sie liegenlassen, bei Brodie an der Bar … Er wird ihn vorbeibringen. Und dann die Straßenseite, Eschenbach! Sie wollen doch nicht im Graben landen, oder?«
Während sie ins Haus gingen, erzählte Billadier, wie er mit dem Trinken vollständig aufgehört hatte und ins Private-Equity-Geschäft eingestiegen war.
»Ich war damals früh in diesem Zyklus, und ich hatte Glück. Der A. Landmark Trust, den ich Anfang der achtziger Jahre gegründet habe, mauserte sich zum Liebling der Londoner Bankenszene. Mit der Zeit konnte ich mir die Geldgeber aussuchen, und die Investitionen auch. So ist aus einem alten Trottel wie mir doch noch ein Glückspilz geworden. Und zehn Jahre nach der Gründung, als mein privater Anteil auf über hundert Millionen Pfund angestiegen war, da habe ich dem Eidgenössischen Militärdepartement einen Brief geschrieben: dass ich auf mein Pensionsgehalt verzichte und sie sich ihr Geld sonst wohin stecken sollen …«
Seit diesem Brief an seine alten Arbeitgeber, erzählte der Oberst, hatte er seinen Namen geändert. »Ernest Bill – ich finde, es klingt weniger besoffen. Zudem können’s die in London aussprechen, ohne zu stottern.«
Aus Ernest A. Billadier alias Bill war ein reicher Mann geworden, das war Eschenbach nun klar. Abgesehen von dem Landsitz, einem renommierten Gestüt, zwei Whiskey-Destillerien nördlich von Dublin und dem Dead End, das er für Brodie gekauft hatte, kontrollierte er über seinen Trust unzählige private Unternehmen.
Die Haushälterin brachte ein Tablett mit Tee.
»Das ist übrigens Chester.«
Der pensionierte Engel, dachte Eschenbach und versuchte aufzustehen. Es gelang ihm nur halb. »Wir haben uns bereits bekannt gemacht.« Mit einem Seufzer ließ sich der Kommissar zurück auf den Stuhl fallen.
Chester deutete einen Knicks an und entfernte sich wieder.
»Ihr Mann ist bei einem Unfall ums Leben gekommen. Bei demselben Unfall übrigens, bei dem auch Judiths Eltern gestorben sind. Er war sozusagen auf der Gegenseite. Fürchterliche Sache.« Billadier hob die Schultern. »So ist das Leben. Seither wohnt sie hier auf der Landmark.«
»Judiths Eltern? Sie meinen wohl eher ihre Mutter«, bemerkte Eschenbach, nachdem er seine Tasse in einem Zug leer getrunken hatte. »Anne-Christine Banz … Einen toten Vater habe ich nämlich beim besten Willen nicht finden können. Wer hat eigentlich den Wagen
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