Rütlischwur
sich ganz nah vor den Kommissar hin und sah ihm in die Augen: »Das ist ein Inferno, ich warne Sie!«
Eine Schwester kam sofort herbeigeeilt, zog den Mann freundlich am Ärmel und lächelte.
»Polizei!«, kreischte jemand in Eschenbachs Rücken.
Der Kommissar fuhr zusammen und drehte sich um.
Dr. Koch winkte ab. »Keine Sorge, es sind nicht Sie gemeint.«
Sie gingen weiter, vorbei an einer kleinen Sitzgruppe mit billig wirkenden blauen Polstersesseln. Auf einem Beistelltisch aus Plastik stand ein Gesteck mit ausgefransten Trockenblumen.
»Erwarten Sie nicht zu viel«, sagte Dr. Koch, als sie im Büro der Ärztin angekommen waren. »Der äußere Schein trügt.«
Eschenbach fragte sich, welcher Schein gemeint war. Und er wunderte sich, als kurz darauf eine großgewachsene, schöne Frau Mitte sechzig ins Zimmer trat.
»Frau Dubach«, sagte die Ärztin.
Der Kommissar erhob sich.
Der Besuch im Klinikum Rosen war Eschenbach in die Knochen gefahren. Er merkte es am Zittern seiner Knie und der tattrigen Art, mit der er sich hinters Steuer seines dunkelblauen Mercedes E 350 setzte und losfuhr. Rosa hatte ihm den Geschäftswagen organisiert, vermutlich weil sie wegen der Volvo-Geschichte noch immer ein schlechtes Gewissen hatte. Der Kommissar manövrierte den Wagen durch die engen Kurven hinunter auf die Seestrasse.
Äußerlich hatte Gisela Dubach rein gar nichts gefehlt. Sie war mit ihren kurzen schwarzen Haaren und dem perfekt sitzenden Kostüm von Chanel sogar eine äußerst attraktive Erscheinung. Eine alternde Audrey Hepburn. Erst als sie miteinander sprachen, hatte er gemerkt, wie wenig sie noch von dieser Welt war. Und als sich Eschenbach nach einer knappen halben Stunde verabschieden wollte, hängte sich Gisela Dubach bei ihm ein und sagte: »Peter, du nimmst mich jetzt mit … Wie immer, gell?«
Die ganzen Kehren hinunter zum See hatte der Kommissar dieses Bild vor sich: die verwirrte Frau, wie sie von zwei Pflegern in den großen Bettenlift gebracht worden war, wie sie ihn flehend angestarrt hatte, bevor sich die metallenen Schiebetüren mit einem dumpfen Geräusch geschlossen hatten.
Unten am Hang, vor einer der letzten Kehren, trat Eschenbach aufs Gaspedal und drückte die edle Limousine um die Kurve, wie Jo Siffert im Bergrennen von St. Ursanne. Es ist die Angst – sie reißt uns in den Abgrund –, nicht genau in diesen Worten zwar, aber in ungefähr diesem Kontext hatte Dr. Koch ihm das Problem vieler ihrer Patienten umschrieben.
Warum ließ sich Angst nicht einfach überwinden? Eschenbach merkte, wie sein Heck ausbrach, wie sein Wagen schlingernd von der Straße abkam und nur dank einer Thujahecke wieder zurück auf die Fahrbahn gelangte. Das Zittern seiner Knie verstärkte sich. Es war das Alter, nicht der Tod, vor dem ihm graute. Auf der Seestrasse, nach ungefähr fünfhundert Metern, hielt er an und blickte auf das blau schimmernde Wasser des Zürichsees. Wann war er das letzte Mal einfach so hineingesprungen?
Eine Viertelstunde später, nass und nur mit seiner Unterhose bekleidet, stand der Kommissar wieder vor seinem Wagen. Eine kühle Brise fegte das erste Herbstlaub über die kleine Rasenfläche am Ufer. Er fühlte sich wie Kirk Douglas in Spartacus . Das Zittern war weg, dafür schlotterte er wie Espenlaub. Aber das machte nichts, er spürte sein Herz, wie es kraftvoll das Blut durch die Adern pumpte und wie sein Kopf wieder klar wurde.
Nachdem er sich angezogen hatte, rief er Claudio Jagmetti an.
»Wir müssen diesen Dubach finden«, sagte er ohne große Umschweife.
»Der ist doch über alle Berge.«
»Nein.«
»Er wäre nicht der Erste, der mit ein paar geklauten Bankdaten verschwindet«, argumentierte Claudio. »Und der sie dann an die Deutschen oder die Franzosen … oder an was weiß ich wen verhökert und sich irgendwo auf einer Südseeinsel ein schönes Leben macht.«
»Nein und nochmals nein«, sagte Eschenbach.
Dubach war ein Sohn, der sich um seine Mutter kümmerte. Dies stand außer Zweifel. Er hatte sie in die Klinik gebracht, dort regelmäßig besucht und wieder abgeholt. Immer. Dubach ging im Klinikum Rosen ein und aus. Es war unmöglich, dass er einfach verschwand. Aber weil es Dinge gab, die man erst begriff, wenn man älter wurde, verschwieg der Kommissar seine Überlegungen. Claudio war ein junger Mensch, das Altwerden war für ihn so weit weg wie ein Begriff aus einem Chinesisch-Wörterbuch.
»Ich weiß es, Claudio. Peter Dubach ist entweder tot, oder es
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