Rütlischwur
Gedanken die Spielkarten durch: vom Kreuz-Ass bis zur Karo-Zwei. Sie legte eine Karte nach der andern auf diesen imaginären grünen Filz, und als das ganze Spiel in vier vertikalen Reihen vor ihr lag, begann sie von neuem, so wie sie es immer tat, wenn sie sich beruhigen musste.
Als Judith mit ihrer Bluse zufrieden war, tat sie dasselbe mit Jackett und Hose. Weil diese Kleidungsstücke schwarz waren, konnte sie das Ergebnis zwar nicht sehen, aber sie wusste, dass es funktionieren würde.
Der Nachtportier im Hotel Helmhaus hatte sich die Geschichte vom eifersüchtigen Freund angehört und immer wieder mitleidvoll den Kopf geschüttelt: »Geben Sie mir Ihre Kreditkarte«, sagte er schließlich.
Judith gab sie ihm. Vermutlich hätte sie sich die Erklärung zu ihren nassen Kleidern sparen können. Der Mann, der ihr gerade das Gästeformular zur Unterschrift hinhielt, sah so aus, als hätte er alle Geschichten dieser Welt schon gehört. Die möglichen und die unmöglichen.
»Ich gebe Ihnen Zimmer drei, das ist im dritten Stock«, sagte er, als alle Formalitäten erledigt waren. »Und was Ihren Freund angeht, also wenn der Sie heute schon in den See stößt … Er wird Sie spätestens in zwei Jahren umbringen. Es gibt keine guten Männer mehr, heutzutage. Gute Nacht.«
Die heiße Dusche tat ihr gut.
Als sie sich vor dem Spiegel abtrocknete, sah Judith, dass ihre Oberlippe geschwollen war. Es war seltsam, dass sie es erst jetzt bemerkte. Banz hatte sie geschlagen. Aber sie konnte sich nicht an den Schmerz erinnern; nur eine leichte Taubheit fühlte sie nun, wenn sie mit der Zunge über die verletzte Stelle fuhr.
Wie konnte das nur passieren?
Sie war in Banz’ Büro gewesen, in der Hoffnung, etwas über die dubiosen Geschäfte mit dem Kongo herauszufinden. Sie hatte keine Ahnung, wonach sie hätte suchen sollen. Eine Notiz, Verträge – irgendetwas halt. Dann hatte sie in der Schreibtischschublade diesen Laptop gefunden. Sie hatte ihn noch nicht ganz hochgefahren, als sie im Gang den Aufzug hörte. Gerade noch rechtzeitig, um alles wieder an seinen Platz zu legen und zu verschwinden. Warum war Banz zurückgekommen? Und woher hatte er gewusst, dass sie in seinem Büro war?
Judith erinnerte sich, wie er sie zu sich gerufen und zur Rede gestellt hatte. Keine zwanzig Minuten später. Und wie er gegrinst hatte, als sie ihn auf diese andere Sache ansprach.
Nur gegrinst und gelacht.
Dass sie das Kind einer Hure sei, hatte er ihr an den Kopf geworfen. Ein Hurenkind!
Aber das stimmte nicht. Das war einfach nicht wahr.
Und wie er dann auf sie zugekommen war, mit diesem geilen, gurgelnden Lachen – was hätte sie anderes tun sollen?
Wenn du nicht davonrennen kannst, dann wehr dich! Das hatte ihr Ernest schon eingebläut, als sie noch gar nicht wusste, gegen wen oder was sie sich zur Wehr setzen musste.
Der erste Schlag muss überraschend erfolgen. Der Gegner darf ihn nicht erwarten – und er muss Wirkung zeigen. Ernest nannte es den zentralen Leitsatz des Kampfs.
Der erste Schlag war ihr nicht geglückt. Judith sah sich im Spiegel noch einmal ihre geschwollene Lippe an, dann nahm sie den Bademantel, der an einem Haken an der Wand hing, zog ihn über und setzte sich aufs Bett.
Als sie den Laptop startete, wunderte sie sich, dass er nicht durch ein Passwort geschützt war. Banz war ein Sicherheitsfreak. Aber nach all den Pannen mit Zu- und Austrittskontrollen, den EDV-Lecks und undichten Firewalls, den Hackerattacken – Banz hatte ihr diese Geschichte erzählt, gleich am ersten Tag, als sie bei ihm angefangen hatte. Immer wieder hatte er an seiner Zigarre gezogen und ihr mit einem verschwörerischen Lächeln anvertraut, was er in seiner langen, gottverdammten Bankenkarriere in puncto Sicherheitssysteme erlebt hatte: »Ich verzichte auf diese dämlichen Bit-Verschlüsselungen. Jeder nur halbtalentierte Hacker knackt sie. Glauben Sie mir, der Einzige, den sie mit diesem ganzen Theater wirklich aussperren, ist der User, weil der dauernd die Passwörter vergisst. Es gibt bessere Methoden, um sein Eigentum zu schützen, effektivere. Stahltüren zum Beispiel und Panzerglas. Ich habe drei Dianit-Tresore in meinem Büro, da kommen Sie nicht einmal mit einer Panzerfaust rein … und ein paar Dinge noch, die ich Ihnen nicht verraten kann.«
Der Laptop enthielt eine Menge Dateien, Judith öffnete sie zuerst wahllos. Sie suchte nach Kontenverbindungen, Namen und Adressen. So wie Paul Zimmer es beschrieben hatte, gab
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