Rütlischwur
es große Geldabflüsse, die vermutlich in bar die Bank verlassen hatten. Geld, das einfach verschwand, ohne Bestimmung und ohne Empfänger.
Da die Kennzahlen der Bank auch so alle Anforderungen der Finanzmarktaufsicht erfüllten, hatte es nie einen Anlass zu einer Untersuchung gegeben. Dies hatte man ihr im Anschluss an die nächtliche Sitzung im St. Gotthard erklärt. Rein buchhalterisch sah es so aus, als hätten viele Kunden über eine längere Zeitspanne ihre Einlagen systematisch reduziert.
Das wäre durchaus plausibel. Es hatte Phasen während der Finanzkrise gegeben, da hatten Kunden in panischer Angst, sie verlören ihr Geld, ihre Ersparnisse von den Banken geholt, sie in Gold oder Edelsteine investiert oder einfach nur unters Kopfkissen gelegt. Es waren innerhalb von Tagen gewaltige Umschichtungen von Kapital vorgekommen, von den Privatbanken weg hin zu den Kantonalbanken, die ihrerseits über eine Staatsgarantie verfügten, weil sie den Kantonen und letztlich der Schweizerischen Eidgenossenschaft gehörten.
Dies alles gab es. Und dies alles hatte einen gemeinsamen Nenner, es war nämlich unsystematisch . Wie die Angst oder die Freude kannte auch der Finanzmarkt kaum eine Systematik. Seine Welt war das Erratische, das Ängstliche oder Gierige, das Plötzliche und das maßlos Übertriebene.
Dass sehr viele Kunden über einen längeren Zeitraum immer wieder größere Beträge abhoben, war zwar nicht verboten, aber nicht sehr wahrscheinlich.
Dieser Argumentation folgend, vermuteten Judiths Auftraggeber vom SND und der FINMA, dass es sich bei der Banque Duprey umgekehrt verhielt, dass all dies nur Tarnung war. Vermutlich hatten wenige Kunden, im Gesamtkontext vielleicht ein paar hundert, riesige Beträge transferiert.
Zehn Milliarden Franken lautete die ungefähre Schätzung, auf die man sich geeinigt hatte.
Und die beiden Fragen, die alle gleichsam beschäftigten, waren: Wohin hatte man das Geld transferiert und warum?
Judith las ein paar Geschäftsbriefe, überflog Notizen und E-Mails. Sie sortierte die Files nach Typen: .DOC, .XLS, .PPT und so weiter. In einem der Unterverzeichnisse fand sie Präsentationen und Reden, die Banz zu verschiedenen Themen gehalten hatte. Ein anderer Bereich enthielt Quartalsberichte und Kennzahlen. Wenn sie die Dateien gründlich durchforsten wollte, brauchte sie Zeit. Die Batterieanzeige ließ ihr davon wenig. Eine Stunde und zehn Minuten – das reichte nicht. Sie würde sich am nächsten Morgen ein Netzkabel besorgen und dann in aller Ruhe eine Sicherheitskopie anfertigen, dachte sie.
Judith merkte, wie sie wieder zu frösteln begann, wie ihre Finger über der Tastatur zitterten. Sie war in eine Daunendecke gewickelt, mehr ging nicht.
Wenigstens die Hauptverzeichnisse wollte sie noch durchgehen, auch wenn ihre Namen wenig verheißungsvoll klangen. COMPL, FIN, STRAT usw. Es waren meist Abkürzungen, die einen Bezug zum Geschäftsfeld oder zur Organisationsform der Bank hatten. Beim Begriff REDUIT stutzte Judith.
Während ihrer Recherchen bei der FINMA hatte sie unzählige Namen, Abkürzungen oder Idiome gelesen. Manchmal hatte sie diese seltsamen Wortschöpfungen sogar übernommen, bewusst oder unbewusst. Aber REDUIT gehörte nicht in die Schatulle dieser seltsamen Wortschöpfungen, die die Finanzwelt mit ihrem alchemistischem Eifer hervorbrachte.
REDUIT bedeutete etwas ganz anderes: Als Begriff stand es für die Verteidigungsstrategie der Schweizer Armee während des Zweiten Weltkriegs. Angesichts der übermächtigen Bedrohung durch die Achsenmächte hatte General Henri Guisan den Plan entwickelt, das Gros seiner Streitkräfte in Festungsanlagen rund um das Schweizer Alpenmassiv zu konzentrieren. Das Schweizer Réduit wurde später zum Inbegriff des helvetischen Wehrwillens gegen das Dritte Reich.
Judith war dieser Plan von Kindesbeinen an geläufig, denn er war ein Steckenpferd von Ernest, der oft und gerne darüber philosophierte, weil er in der momentanen Finanzkrise eine ähnliche Bedrohung auf die Schweiz zukommen sah.
Judith klickte das Verzeichnis an und öffnete eines der Dokumente.
Es war die Kopie eines Schreibens des Generals an den Schweizer Bundesrat, datiert vom 12. Juli 1940.
Geheim
Ich habe folgenden Entschluss gefasst. Die Verteidigung des Landes wird nach einem neuen Grundsatz organisiert werden, demjenigen der Staffelung in der Tiefe …
Die Widerstandsstaffeln werden sein:
– die Grenztruppen,
– eine vorgeschobene oder
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