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Rütlischwur

Rütlischwur

Titel: Rütlischwur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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bereits tief und fest.
    »Glauben Sie an Vorsehung, Kommissar?«
    Eschenbach zuckte ungeduldig die Schultern, dann schüttelte er leicht den Kopf. Er hatte über fünfzehn Stunden geschlafen. Nun saß er seit einer halben Stunde mit John auf der Terrasse des Café Tulipan, direkt gegenüber dem Kloster. Die Sonne stand bereits zwischen den Kirchtürmen. Es war fünf vor zehn.
    Wo war Judith? Eschenbach hatte mehrmals nach ihr gefragt, aber John war ihm stets ausgewichen. Und jetzt, so wie der Bruder die Geschichte erzählte, war es die reinste Geduldsprobe. Wie bei einer Fortsetzungsserie im Fernsehen unterbrach er seine Ausführungen immer wieder, wenn sie gerade so richtig interessant wurden, wiegte dann nachdenklich den Kopf und stellte Eschenbach eine Frage, die mit »Glauben Sie …« begann und die nicht unmittelbar etwas mit dem Unfallhergang zu tun hatte.
    »Wo sind wir denn stehengeblieben?«, fragte John. Es war ihm nicht anzusehen, ob er enttäuscht war, dass er von Eschenbach wieder keine Antwort auf seine »Glauben Sie«-Frage erhalten hatte.
    Der Kommissar rückte mit seinem Stuhl näher an den Tisch und fasste die letzte Folge zusammen.
    »Im Moment liege ich bewusstlos am Boden, und im Auto … also dort sind zwei Männer. Einer ist Judiths Chef bei der FINMA, dieser Imholz.«
    »Perfekt.«
    »Und dann noch der Fahrer, der fluchend hinter dem Lenkrad sitzt … am Rand eines Nervenzusammenbruchs.«
    »Das ist eine ganz exzellente Zusammenfassung.«
    »Ach, kommen Sie!« Eschenbach wusste nicht recht, ob die treuherzigen Kommentare des Mönchs ironisch gemeint waren. Er räusperte sich. »Judith realisiert also, dass in ihrem Hofstaat der Dornröschenschlaf ausgebrochen ist, packt die Gelegenheit beim Schopf, steigt aus dem Wagen und flüchtet.«
    »Hm«, machte John und blinzelte in die Sonne.
    »Dann eben nicht.« Eschenbach hob die Schultern. »Ich kann’s ja nicht wissen. Aber Sie … Sie sind offenbar über alles im Bilde. Also, sagen Sie’s schon, wie geht es weiter?«
    John schwieg.
    Nicht schon wieder eine Pause. Eschenbach hob den Blick zum Himmel. An dieser Stelle hätte man im Fernsehen einen Werbeblock gezeigt.
    »Judith flüchtet eben nicht … Sie entfernt sich nur.« Ein Lächeln flog über das pausbäckige Gesicht des Bruders. »Das ist ein kleiner, aber wichtiger Unterschied. Wenn man flüchtet, sitzt ­einem die Angst im Nacken … Doch Judith hat einen Plan. Und wenn man einen Plan hat, dann tritt an die Stelle der Angst die List.«
    »Sie lesen zu viele Krimis, John.«
    Der Bruder schüttelte den Kopf. »Nein, nein, Herr Kommissar. Stellen Sie sich vor: Judith hat bestimmt keine Ausweise, kein Geld … rein gar nichts. So kommt man vielleicht durch den Kanton Schwyz, aber in Zürich ist man aufgeschmissen. Man wird aufgegriffen … durch eine Polizeistreife, früher oder später. Und dann wäre Judith ebendort gelandet, wo man sie sowieso hatte hinbringen wollen.«
    »Hat sie Ihnen das so erzählt?«
    John schüttelte erneut den Kopf. »Aber ich kann es mir vorstellen.«
    Eschenbach holte tief Luft. So wie der Ordensbruder von Judith sprach, konnte es nicht mehr lange dauern, bis sie heilig­gesprochen wurde.
    »Mal ehrlich, John, warum glauben Sie, dass Judith Banz nicht erschossen hat?«
    »Stellen Sie jetzt die Glaubensfragen?«
    »Ich meine nur.«
    »Ich weiß es.«
    »Was wissen Sie?«
    »Judith sagt die Wahrheit.« John wurde plötzlich ganz ernst. »Es mag für Sie seltsam klingen. Als Polizist sowieso; denn vermutlich hat man Sie in Ihrem Leben mehr angelogen, als dass man bei der Wahrheit geblieben ist.«
    »Ebendrum.«
    »Aber Judith kann gar nicht lügen.« Bruder John nickte mehrmals hintereinander. Als er das verdutzte Gesicht Eschenbachs sah, atmete er hörbar ein und aus, tief und etwas resigniert: »Judith … Sie hat es nicht ein einziges Mal getan. In den ganzen fünfzehn Jahren nicht, seit ich sie kenne. Und glauben Sie mir, ich merke sehr wohl, wenn man mir einen Bären aufbindet. Ich unterrichte seit über dreißig Jahren Kinder und Jugendliche. Da werden Sie angelogen, bis sich die Bäume biegen … Der Lehrer erlebt das noch häufiger als der Polizist.«
    »Na gut, was nun?«
    »Glauben Sie, es gibt Menschen mit einem Wahrheitsfimmel? So wie Putzfimmel oder wie …«
    »Nicht schon wieder!«
    »Also gut.«
    »Weiter. Was geschieht nun?«
    »Judith türmt nicht. Sie beobachtet aus sicherer Entfernung das Geschehen …«
    »Sitzt also hinter dem

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