Rütlischwur
angenehmen 23 Grad.
Es hatte sie niemand gebeten hierzubleiben, obwohl es eigentlich Vorschrift gewesen wäre. Schließlich musste jemand erreichbar sein. Hätte sie jemand gefragt, sie hätte gerne und ohne zu zögern ja gesagt, denn sie wollte auf eBay die letzten Minuten verfolgen, in denen eine ihrer Handtaschen versteigert wurde. Und das ging am besten, wenn man allein im Büro war. Zudem brachte sie aus Mangel an Geld ihr Mittagessen immer selbst mit, oder sie ließ sich von Claudio einladen, was allerdings bisher nur einmal vorgekommen war.
Aber jetzt war dieser wütende Mensch am Telefon. Ein gewisser Jeremy Walther. Darauf war sie nicht vorbereitet. Warum auch? Sie war neu hier und hätte die Situation keineswegs entschärfen können.
»Es ist mir lieber, du fragst einmal zu viel, als dass dann irgendwas im Argen liegt.« Diesen Satz hatte Claudio ihr mehrmals ans Herz gelegt.
Also rief Jacqueline ihren Chef auf dessen Handy an. Die Nummer kannte sie auswendig. In den letzten drei Tagen hatte sie ihn schon mindestens fünfzehn Mal angerufen: wegen der Bleistifte, des Papiers für den Drucker und der Bezugsquelle für die Kaffeekapseln. Wegen des Ein- und Ausstempelns und des Codeworts für den Zugang zum Systema Automatica Porcamiseria .
Jagmetti stöhnte kurz auf, als er auf dem Display sah, wer ihn gerade anrief. »Die kann mich mal«, murmelte er und schaltete den Apparat aus.
Sein Gegenüber schien beeindruckt. »Musst du denn nicht erreichbar sein?«
»Nicht für jeden Mist.«
Das Abschalten des Handys, der Satz, den er gerade aussprach … Jagmetti hatte sich das alles bei Eschenbach abgekupfert. Diese Souveränität, mit der sein alter Chef sich die unwichtigen Dinge vom Leibe hielt.
»Ich könnte das nicht«, sagte seine Kollegin. Sie hatte in der Zwischenzeit auf ihr neues iPhone geschaut und festgestellt, dass bei ihr kein Anruf eingegangen war.
Der Mist, von dem Jagmetti sprach, war noch lange nicht ausgestanden. Eigentlich fing er erst richtig zu gären an: mit einem Telefonanruf an die Notfallzentrale der Kantonspolizei, von einer Frau, die sich erst gar nicht die Mühe machte, ihren Namen zu nennen.
»Ich bin die Sekretärin von Herrn Walther – Walther mit Teha, in Thalwil. Mein Chef versuchte Ihren Chef zu erreichen. Aber da nimmt niemand ab.«
»Und jetzt?«
Der Korporal, der die letzten sechs Monate vor seiner Pensionierung in der Zentrale absaß, notierte die Tehas auf dem Standardblock für eingehende Notrufe.
»Jetzt spreche ich mit Ihnen, weil mein Chef gerade mit jemandem spricht, der von Ihrem Chef dringend gesucht wird.«
»Eine Chefsache also.«
»Werden Sie nicht albern, schreiben Sie auf: Judith Bill – es stand in allen Zeitungen. Die dringend Tatverdächtige im Mordfall Banz … Sie müssen doch so etwas im Kopf haben, oder?«
Der Korporal wurde hellhörig. Er legte seinen Stift beiseite, stellte noch zwei Fragen, dann war er endgültig überzeugt, dass sie keine Spinnerin war, die ihre Nachbarin anzeigen wollte.
»Ich weiß nicht, wie lange Herr Walther die Flüchtige noch aufhalten kann«, sagte die Frau am Telefon. »Also unternehmen Sie etwas!«
Der Mist, die Bagatelle … was immer es bis zu diesem Zeitpunkt für Claudio gewesen war – es flog dem jungen Polizisten gehörig um die Ohren, als er auf dem Weg ins Büro sein Handy wieder einschaltete und die Mitteilungen auf seiner Combox abhörte. Beat Kollreuter, Einsatzleiter des für Judiths Festnahme abkommandierten fünfköpfigen Teams, informierte ihn kurz und giftig, in vorwurfsvollem Ton. Und Max Höslis kurze Bitte um Rückruf war eingebettet in eine Reihe übler Flüche.
Wie ein geprügelter Hund hockte Jagmetti im hintersten Wagen des Zweiers, stieg bei der Tramhaltestelle Stauffacher aus und trottete zum Werdhaus in böser Vorahnung einer Inquisition.
Er sah Hösli bereits vor sich, wie er dastand, flankiert von zwei ranghohen Offizieren, und er stellte sich vor, wie er ihn, Jagmetti, anlächelte. Aber das Lächeln war nur die Fratze eines Sadisten. Claudio spürte es, sowie er Hösli in die Augen sah: in zwei eisgraue Schlitze, so wie man sie normalerweise nur in Filmen sah, wenn jemand einen Gestapo-Obersten spielen musste.
Hösli, der langsam auf ihn zukam, wurde größer und größer. Der kleine Hösli war nun zu einem Riesen angewachsen. Und er würde ihn, Jagmetti, zertreten wie einen wehrlosen Käfer. Zermalmen, nachdem er ihm, Jagmetti, vorher noch die Eier gequetscht
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