Rütlischwur
man sie dort bald wieder entlässt. Judith ist unschuldig.«
Eschenbach wusste nicht, was er darauf hätte antworten sollen.
»Und dann noch die Zeit, bitte.«
»Die Zeit?« Eschenbach sah John verdutzt an.
Der Bruder streckte seinen linken Arm aus, an dessen Handgelenk eine Kette mit Bernsteinen hing.
Der Kommissar wunderte sich. Es war ihm bisher nie aufgefallen, dass der Bruder keine Uhr besaß. »Es ist kurz vor sechs.«
»Und ich hätte schwören können, dass die fünf noch nicht vorbei ist.« Der Bruder schüttelte den Kopf. »Es ist seltsam. Bevor wir mit den ganzen Recherchen angefangen haben … Also, da habe ich die Zeit immer gewusst. Sie lag im Rhythmus meines Tages. Ich hatte das Gefühl, dass ich in diesem mächtigen Strom mitschwimme. Aber jetzt kommt es mir vor, als flösse er an mir vorbei.«
Eschenbach ging zum Telefon, rief die Auskunft an und ließ sich die Nummern jener kantonalen Zürcher Gefängnisse geben, von denen er wusste, dass sie über Frauenzellen verfügten.
»Um sechs singen wir«, rief John. »Wir müssen unbedingt Bruder Pachomius aufwecken.«
»Tun Sie das!«
Noch bevor der Gong das zweite Mal erklang, traten die drei Männer zu den anderen Mönchen der Choralschola, die sich im hinteren Teil des mächtigen Kirchenschiffes bereits versammelt hatten.
Bruder Pachomius seufzte laut auf. Er blickte abwechselnd zu John und Eschenbach, die ihn stützend durch die langen Gänge von der Bibliothek bis in die Kirche geschleift hatten.
»Ihr könnt mich jetzt wieder loslassen. Stehen und singen kann ich allein.«
»Wohin haben Sie Judith gebracht?«, keuchte John.
»Ins Gefängnis Zürich.« Der Kommissar wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Jetzt, da er umgeben war von einer Bruderschaft in schwarzen Kutten, kam er sich komisch vor in Christians nadelgestreiftem Zweireiher.
»Gefängnis Zürich … Das haben Sie mir schon zweimal gesagt. Aber wie heißt es denn?«
»Ebenso.«
»Echt?«
»Und ohne Komma«, sagte Eschenbach.
»Das ist ja verrückt.«
Der Choralmagister gab den Grundton vor. Die Bruderschaft übernahm ihn, summend, und entwickelte dann, der Aufforderung ihres Dirigenten folgend, einen Dreiklang. Der Kommissar brachte keinen Ton hervor. Wie ein gestreiftes Schaf inmitten einer schwarzen Herde kam er sich vor. Der Akkord schwoll mächtig an. Eschenbach spürte, wie jede Faser seines Körpers davon erfasst wurde. Dann plötzlich, auf ein erneutes Zeichen hin, verstummten die Mönche; der Klang brach ab, wie ein Felsblock, der sich aus Klippengestein löste und hinunter ins Meer stürzte.
Eine tiefe Stille erfasste den Raum.
Zuerst hatte Eschenbach den Eindruck, er verlöre den Boden unter den Füßen. Aber das war es nicht. Er fiel nicht, sondern das Gegenteil traf zu. Er begann zu schweben, wurde getragen von einer Gruppe Menschen, die ihn in ihrer Mitte aufgenommen hatten.
Dabei konnte er gar nicht singen. Nur in der Dusche, wenn ihn niemand hörte.
Aber das spielte hier keine Rolle. Er war Teil eines Ganzen geworden, ohne Wenn und Aber. Als der Kommissar über seine Schulter in Johns rundes Gesicht blickte, sah er, wie dieser ihm zublinzelte.
Das Singen der Bruderschaft dauerte knapp eine Stunde. Nach den anfänglichen Übungen wie Dreiklang, Tonleiter et cetera sang der Chor zuerst das Ky´rie eléison und danach Gloria in excelsis Deo .
Einmal, als das Tutti der Chorstimmen sich zu einem Fortissimo steigerte, zuckte der Kommissar zusammen. Er hatte sich selbst singen gehört, in einem kräftigen Bariton. Was war nur in ihn gefahren, und woher kannte er Text und Tonfolge? Eschenbach konnte sich nicht erinnern, die Lieder je einmal gesungen zu haben.
Als er sich darauf konzentrierte, wieder in den Gesang der Mönche hineinzufinden, gelang es ihm nicht mehr. Also ließ er sich tragen, summte still mit und schloss langsam die Augen.
Am nächsten Morgen erschien Eschenbach bereits um sechs Uhr am Frühstückstisch. Er hatte bisher noch nie zusammen mit der Bruderschaft die erste Mahlzeit des Tages eingenommen. Für externe Gäste, und Eschenbach war schließlich ein solcher, war dies auch nicht vorgesehen.
Aber dies kümmerte den Kommissar an diesem Morgen nicht. Er setzte sich zu John, hörte andächtig zu, als das Tischgebet gesprochen wurde, und meinte, während er sich ein Brot strich:
»Es ist mir eingefallen, wie wir trotzdem mit Judith sprechen können. Ich habe Ihnen das ja gesagt, gestern. Mich lässt man nicht zu ihr.
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