Rütlischwur
Lenz schob Eschenbach die Hochglanzbroschüre zu. »Aber so etwas gibt es hier nicht. Und drum schauen wir mal, ob wir ihn im Internet finden.«
War es möglich, dass ein Kunststudium in Florenz, eine Romanze mit Rosa … oder was sonst noch im Spiel war, bei älteren Herren wie Ewald Lenz den Alterungsprozess stoppten? Ihn sogar rückgängig machten?
Während Eschenbach diese Gedanken durch den Kopf gingen, sah er Lenz zu, wie dieser auf seinem PC versuchte, anhand verschiedener Suchkriterien ein Bild von Bill zu finden.
»Bill ist ein Allerweltsname«, knurrte Lenz nach einer Weile. »Bill Clinton, Bill Ramsey, Max Bill … Es gibt ihn trillionenfach … als Vor-, Nach- und Übername. Aber im Zusammenhang mit Duprey finde ich nichts.« Etwas resigniert legte er den Laptop beiseite und nahm einen Schluck Rimuss * , den Rosa zusammen mit den vorbereiteten Tellern Vitello tonnato ebenfalls bereitgestellt hatte.
»Und was tun wir jetzt?« Eschenbach strich sich nervös durch den Bart. Eine Geste, die er sich erstaunlich schnell angewöhnt hatte.
»Wenn dir keine Ideen kommen, kannst du wenigstens den Tisch abräumen.« Lenz warf ihm einen grimmigen Blick zu, bevor er ein weiteres Mal den Geschäftsbericht zur Hand nahm.
»Den schaust du dir jetzt schon zum zehnten Mal an.« Der Kommissar stand auf, nahm die leeren Teller und ging in die Küche. Im Kühlschrank fand er eine Plastikbox mit Heidelbeeren vor, die er auf zwei kleine Schalen aufteilte und mit etwas Sauerrahm übergoss.
Rosa hatte wirklich an alles gedacht.
Auf dem Weg zurück in den Garten prallte er beinahe mit Lenz zusammen.
»Es ist die Unterschrift«, sagte der Alte. »Ich hab die irgendwo schon einmal gesehen.«
Es waren diese seltsamen Situationen, in denen Lenz mit seinen Gedanken ganz weit weg war. Der Kommissar kannte den Alten lange genug, um zu wissen, dass er sich jetzt still und unauffällig verhalten musste. Nur nichts fragen. Und schon gar nicht im Weg stehen! Den Zustand, in dem Lenz sich nun befand, hatte sich der Kommissar immer als eine Art von Fieber vorgestellt. Wie Jagdfieber, allerdings ohne dass am Ende geschossen wird.
Erinnerungsfieber vielleicht.
Aber auch das war zu kurz gegriffen. Denn genau genommen litt die halbe Menschheit an so etwas Ähnlichem. Ein Fieber, das meistens mit dem Satz beginnt: »Ich habe gestern den Dings getroffen – ach, du weißt schon, den Dings …«
Dingsfieber!
Und alle beginnen wie wild Fragen zu stellen, dass man am Schluss einen roten Kopf hat und keiner mehr weiß, welches Dings überhaupt gesucht war.
Eschenbach setzte sich an den Tisch und probierte den Nachtisch. Lenz fand das Dings immer. Es würde überhaupt nichts bringen, ihn jetzt zu fragen, welche seltsamen Gedankenzusammenhänge (oder waren es -sprünge?) dazu führten, dass der Alte damit begonnen hatte, sein riesiges Bücherregal von oben nach unten zu durchforsten.
»Die Unterschrift also«, murmelte Eschenbach und machte sich über die zweite Schale Heidelbeeren her.
Als Lenz wiederauftauchte, mit einem kleinen Buch in der Hand, war in keinem der beiden Schälchen nur eine einzige Beere mehr übrig.
»Sorry, Ewald.«
Aber Lenz war mit einer ganz anderen Sache unterwegs. »Lies mal da!«, sagte er und legte das aufgeschlagene Büchlein auf den Tisch. Auf einer der vorderen Seiten, unter dem letzten Abschnitt, stand eine faksimilierte Unterschrift:
Eschenbach las sie laut vor: »Ernest A. Bill –«
»Und jetzt noch mal.«
Der Alte nahm seinen Daumen weg, mit dem er den hinteren Teil des Schriftzugs verdeckt hatte.
»Ernest A. Billadier.«
Einen Moment sagte keiner der Männer nur ein Wort. Dann nahm der Kommissar die Geschäftsbroschüre, aus der bereits einige Blätter lose herausfielen, weil sie aus dem Leim gegangen war. »Es ist dieselbe Schrift …«, sagte er. »Ich meine, abgesehen vom A in der Mitte und dem Rest am Schluss.«
Lenz nickte. »Da braucht man kein Graphologe zu sein.«
Eschenbach zog das rote Büchlein an sich, klappte es zu und sah sich den Einband an. In großen Lettern, mehrfach getrennt, stand über die ganze Seite das Wort: Zivilverteidigung.
»Da staunst du, was?«
Der Kommissar sog hörbar Luft durch die Nase, denn Worte brauchte es keine mehr. Auch Eschenbach gehörte der Generation Schweizer an, denen dieses Buch ein Begriff war. Ein Begriff deshalb, weil es der größte Schweizer Bestseller aller Zeiten gewesen war. Wobei Bestseller nicht ganz stimmte: Das Buch wurde
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