Rütlischwur
legten die beiden schweigend zurück. Zwischen Horgen und Wädenswil blickte John entzückt auf den Zürichsee hinunter. Greifbar nah, wie ein königsblauer Teppich lag das Wasser vor der gewaltigen Kulisse der Glarner Alpen. Etwas später lenkte Claudio bei Richterswil den Wagen gemächlich von der Autobahn weg auf die Landstraße.
»Der Kommissar sagt, Sie leiden an einem Sebastian-Vettel-Syndrom.«
»Sagt er das?«
»Er meint das wegen Ihrem Fahrstil, den ich übrigens sehr angenehm finde.«
»Sebastian Vettel ist der Heilige des Motorsports«, antwortete Jagmetti.
John konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Ausgerechnet er, der von Motorsport so gut wie nichts wusste, hatte diesen Rennfahrer ins Spiel gebracht – und Claudio, der seinerseits über theologische Fragen kaum etwas zu wissen schien, konterte mit einem Heiligen!
Warum sprach nicht jeder über die Dinge, in denen er auch zu Hause war?
John hatte die ganze Zeit über gespürt, dass Jagmetti ihn über Judith befragen wollte. Warum tat er es nicht? Die Fragen mussten dem Jungen geradezu auf der Zunge brennen. Was bedrückte den Polizisten so sehr, dass er sich nicht öffnete?
»Ich halte den Formel-1-Sport für ein sehr fragwürdiges Spektakel«, begann der Bruder in väterlichem Ton. »Aber ich lese die Zeitung … darum ist mir Vettel bekannt. Der heilige Sebastian allerdings ist er nicht. Denn dieser lebte dreihundert Jahre nach Christus, war ein römischer Offizier, der sich zum Christentum bekannte und deshalb zweimal hingerichtet wurde. Die erste Hinrichtung überlebte er auf wundersame Weise und wurde dadurch zum Märtyrer.«
»Ach so.« Jagmetti schaltete zwei Gänge hinunter.
Der Motor heulte auf wie ein Hund, den man mit Steinen bewarf.
»Einen heiligen Claudio haben wir auch«, bemerkte John nun mit erhobener Stimme. Der Bruder hatte Mühe, gegen das laute Motorengeräusch anzukommen. »Wobei ich mir die Bemerkung erlauben muss, dass die heilige Claudia viel bekannter ist. Sie lebte im 15. Jahrhundert, hier in der Schweiz … war die erste Äbtissin im Klarissenkloster in Genf.«
John blickte zur Seite und sah Claudio an.
Der Bündner hatte seine Lippen zusammengepresst, blickte stur geradeaus. Die Art und Weise, wie er das Lenkrad umklammert hielt, entsprach keineswegs dem langsamenTempo, in dem sie sich durch die Kurven schlängelten.
Irgendeine Sache war am Brodeln, dessen war sich John nun ganz sicher. Wie nur konnte er es ihm entlocken?
»Und wen haben wir noch«, begann der Bruder von neuem. »Ich meine, da wir schon dabei sind mit den ganzen Heiligen …«
Mit einer theatralischen Geste fasste sich John an die Stirn.
»Ach ja, natürlich – da fällt mir Judith ein! Aber, Achtung, nicht die Heldin Israels, das dürfen wir keinesfalls verwechseln …«
»Apropos Judith …«, meldete sich nun endlich Jagmetti.
John atmete auf. Er hatte schon befürchtet, auch noch die Geschichte von Judith von Ringelheim erzählen zu müssen, die ebenfalls Äbtissin war und eine bedeutende Heilige dazu.
»Judith«, wiederholte der Bruder laut und deutlich.
»Genau. Haben Sie etwas Neues erfahren?«
Noch immer fuhren sie weit unter der erlaubten Höchstgeschwindigkeit. Trotzdem pendelte der Tourenzähler von Claudios Audi A3 nahe am roten Bereich. Damit jeder den anderen verstand, mussten sich die Männer nun anschreien. Und dies fiel dem ansonsten sehr bedächtigen Bruder besonders schwer.
»An was denken Sie denn, Claudio?«
»Ach, kommen Sie, John. Man hat mir den Fall entzogen. Und mit dem neuen System, das bei uns eingeführt wurde …« Claudio schlug zweimal mit beiden Händen gegen das Lenkrad. »Also, jetzt muss man auch noch die Ferientage einziehen. Ich meine, die vom letzten Jahr … bis spätestens Ende September.«
»Dann haben Sie jetzt Urlaub?«
»Ja.«
»Und das ist schlimmer als die Todesstrafe, wenn ich Ihr Gesicht so sehe …«
Claudio schaltete einen Gang höher.
Erlöst von seinen Qualen, fand der Motor sein sportliches Brummen wieder.
»Kommt hinzu, dass wir diesen Dubach gefunden haben«, meinte der Bündner etwas zögernd. »Ich dürfte Ihnen das gar nicht sagen. Aber jetzt, wo ich mit alldem nichts mehr zu tun habe …«
Jagmetti erzählte John, dass der vermisste Compliance Officer in einem Nebenraum des Tresors der Bank eingeschlossen gewesen war. »Judith hat uns auf die Idee gebracht, während eines Verhörs im Gefängnis. Sie hätte diesen Dubach gesehen, in einem Video. Hat
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