Ruf der Drachen (German Edition)
Rücken gegen das kühle Gestein des Torbogens und schloss kurz die Augen.
Jakob, was machst du hier eigentlich?
Dass diese Fahrt nach Ostberlin mich in solche Unsicherheit stürzen würde, hatte ich nicht vermutet. Und in diesem Moment hätte ich viel darum gegeben, Maren an meiner Seite zu wissen – was leider unmöglich war. »Tut mir leid, ich kann nicht mitkommen«, hatte sie gesagt. »Heut ist zwar Sonntag, aber nächsten Donnerstag ist eine wichtige Klavierprüfung und ich habe an der Uni extra eine Probekabine gebucht. Meine Nachbarn drehen noch durch, wenn sie das Geklimper die ganze Zeit ertragen müssen.«
Klar, die Klavierprüfung ging vor. Und normalerweise machte es mir auch nichts aus, allein unterwegs zu sein. Doch hier fühlte ich mich deplatziert. Ein wenig verloren mitten in der Stadt, die doch eigentlich mein Zuhause war. Und die so überhaupt nichts mit dem Berlin zu tun hatte, das mir in den letzten zwei Monaten vertraut geworden war.
Ich schlug die Augen wieder auf, vergewisserte mich, dass ich unbeobachtet war, und zog den Stadtplan aus der Tasche. Es war nicht besonders weit bis zum Volkspark Friedrichshain, die Straßenbahn würde mich hinbringen. Ich hob kurz den Blick zur Kugel des Fernsehturms, die plötzlich drohend nah schien und dennoch fremd wie aus einer anderen Welt. Das rote Blinken an der Spitze des Turms kollidierte für einen Moment mit dem Rhythmus meines Herzschlages. Ich riss den Blick los, steckte den Stadtplan wieder in meine Tasche zurück und machte mich auf den Weg – in mir eine Mischung aus neugieriger Erwartung und schwelender Unruhe. Wie ich später erfahren sollte, wäre Angst berechtigter gewesen.
***
Der Volkspark Friedrichshain lag wie eine grüne Oase inmitten des trostlosen Einheitsgraus der Straßenzüge. Ich atmete durch, als ich das Tor zum Park hinter mir gelassen hatte und in die Landschaft eintauchte. Ob Marens Verdacht sich bestätigen würde? Gab es auch hier einen Wasserspeier? In wenigen Minuten würde ich es wissen.
»Entschuldigung«, sagte ich zu der erstbesten Person, die mir über den Weg lief. »Wie komme ich zum Märchenbrunnen?«
Die Frau mittleren Alters musterte mich kurz, dann deutete sie mit dem Finger schräg hinter sich. »Einfach da vor und am Mont Klamott links. Dann kommen Sie direkt zum Brunnen.«
Ich bedankte mich und setzte meinen Weg fort. Der inzwischen mit dichtem Grün bewachsene Trümmerberg, den die Berliner »Mont Klamott« nannten, ragte nicht weit von mir in die Höhe. Ein Anhaltspunkt, den ich auf gar keinen Fall verfehlen konnte.
Während ich den Weg entlangging, spürte ich ein merkwürdiges Prickeln in meinem Nacken, das von Sekunde zu Sekunde stärker wurde. Ich brauchte einen Moment, um zu realisieren, was es war: das Gefühl, beobachtet zu werden!
Abrupt blieb ich stehen und wandte mich um, doch hinter mir war niemand. Der Weg lag verlassen im goldenen Herbstlicht, nur einige Kinder spielten auf einer Rasenfläche in der Nähe. Ich schluckte trocken und schüttelte den Kopf über mich selbst. Meine Wahrnehmung begann mir Streiche zu spielen. Ich war nervös, das war alles. Da konnte man sich schon einmal etwas einbilden, was gar nicht da war. Doch sobald ich mich umdrehte, stellte sich auch das Prickeln wieder ein. Nein, kein Zweifel: Irgendjemand hinter mir behielt mich ganz genau im Auge. Ich wagte nicht, mich nochmals umzuwenden, und beschleunigte stattdessen meine Schritte. Wer auch immer mir da auf den Fersen war, vielleicht konnte ich ihn an einer unübersichtlichen Stelle im Park abschütteln?
Vorsichtshalber änderte ich die Richtung, bog hinter einer Kurve scharf ab und schlug mich seitlich in die Büsche. Dort im Dickicht wartete ich, den Geruch von feuchtem Laub in der Nase. Mein Herz schlug mir deutlich gegen das Brustbein und mein Atem ging stoßweise.
Du wirst verfolgt, verdammte Scheiße!
Wusste jemand von meinem Plan oder gehörte die Überwachung von Besuchern aus Westberlin einfach zum Alltag in der Hauptstadt der DDR? Ich wusste es nicht und es war mir auch vollkommen egal. Ich wollte nur das Gefühl loswerden, dass mir jemand pausenlos im Nacken saß!
Eine Minute verging, dann zwei. Eine gefühlte Ewigkeit. Endlich hörte ich das leise Geräusch von Schritten auf dem asphaltierten Weg. Ich duckte mich tiefer in die Schatten der Büsche, dankbar um das feuchte Laub, das meine Tritte dämpfte, und beobachtete, wie ein großer, hagerer Mann in Sicht kam. Er trug einen beigefarbenen
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