Ruf der Drachen (German Edition)
»Dafür müssten wir tatsächlich herausfinden, wo die anderen Wasserspeier sind. Und welche Rhythmen sich dort zeigen.«
»Ja, das müssten wir wohl«, entgegnete Maren schlicht.
Ich lachte leise auf. »In Ordnung, dann tun wir das. Aber warum der ganze Wahnsinn?«
Maren stimmte in mein Lachen ein. »Keine Ahnung. In der Botschaft stand, dass du weitersuchen sollst, oder? Und ganz ehrlich – interessanter als das Seminar über mittelalterliche Notation ist es auf jeden Fall.«
KAPITEL IV
Die U-Bahn spuckte neben mir noch unzählige andere Westberliner an der Station Friedrichstraße aus. Ich folgte dem Strom der Menschen und fand mich unversehens in einer Abfertigungshalle des Bahnhofs wieder, in der durch Holzwände kleine verspiegelte Kabinen abgetrennt worden waren.
Die Atmosphäre erkaltete innerhalb von Sekunden. Ein unerklärliches Frösteln jagte mir über den Rücken, als ich mich in die Warteschlange einreihte, über der ein fast bedrücktes Schweigen lag. Die Tatsache, dass am Bahnhof Friedrichstraße zwei Staaten, zwei Welten aufeinandertrafen, hinterließ ein befremdliches Gefühl in mir. Es war nur schwer vorstellbar, dass dieser Bahnhof für Ostberliner nicht mehr als eine Endhaltestelle war, ein Ort, an dem es einfach nicht weiterging, während wir Westberliner den Halt Friedrichstraße als zentralen Umsteigebahnhof nutzten. Hier war nicht nur der Grenzübergang zur DDR, sondern auch eine ganz normale Möglichkeit, um von der U-Bahn-Linie 6, die von Tegel nach Alt-Mariendorf führte, in die S-Bahnen umzusteigen. Westberliner wechselten im Untergrund ganz selbstverständlich die Fahrtrichtungen, während nur wenige Meter weiter oben für die Ostberliner hier ein Kontinent endete.
Wer wohl in diesem Augenblick durch die Straßen über mir schritt? Was bewegte die Menschen im Ostteil der Stadt? Nahmen sie nach all der Zeit die Absurdität der Station Friedrichstraße überhaupt noch wahr?
Wie es sich anfühlte, in einem Staat zu leben, der seine Bürger einsperrte, würde ich in wenigen Minuten wissen. Oder zumindest einen Hauch davon wahrnehmen …
Die Zeit schien sich träger dahinzuschleppen als je zuvor in meinem Leben. Als ich endlich an einem Durchlass angekommen war, schob ich dem Mitarbeiter der Passkontrolleinheiten die notwendigen Unterlagen durch einen Schlitz in seine Kabine: meinen Personalausweis, einen Mehrfachberechtigungsschein für das Visum, eine ausgefüllte Einreisekarte und eine weitere Karte für die spätere Ausreise. Es gab absolut keinen Grund dafür, aber dennoch begann mein Herz schneller zu schlagen und eine leichte Nervosität ließ meine Nerven vibrieren. Als der Passkontrolleur die Dokumente an eine Apparatur hielt, ertönte ein leises Piepsen. Dann erhielt ich meinen Ausweis, die mit handschriftlich kryptischen Symbolen verzierte Ausreisekarte und das Visum zurück und passierte den Durchgang zur Zollkontrolle.
Ich hatte Glück. Es wurde lediglich der Inhalt meiner Umhängetasche mit den Angaben auf meiner Zollerklärung abgeglichen. Als es nichts zu beanstanden gab, tauschte ich die geforderten 25 D-Mark in DDR-Mark ein. Noch immer wollte der Druck auf meiner Brust nicht weichen. Noch immer fühlte es sich an, als wäre ich hier verkehrt, als sollte ich besser sofort wieder umkehren. Doch das kam nicht infrage. Nur noch einige wenige Schritte, die rissige Treppe hinauf, die mir, wie ich noch heute genau weiß, endlos lang erschien – dann befand ich mich auf dem »Bahnsteig B« und somit in der Hauptstadt der DDR.
***
Es war, als hätte jemand den Tag plötzlich mit einer grauen Schraffur überzogen. Schon wenige Augenblicke nachdem ich den Bahnhof Friedrichstraße hinter mir gelassen und ganz offiziell den Ostteil Berlins betreten hatte, erfasste mich eine seltsam bleierne Schwere, die über allem lag. Es war anders hier. Ganz anders.
Kreuzberg, wo ich lebte, war ähnlich verfallen, die Häuser seit dem Krieg auch dort fast unverändert. Und doch konnte ich kaum glauben, dass ich nur wenige Straßenzüge entfernt sein sollte, so trist erschien mir alles um mich herum trotz des sonnigen Tages. Es war eine stille, eine gefühlte Dämmerung, die mir mit jedem Schritt tiefer in die Seele kroch.
Ich senkte den Blick und eilte so schnell wie möglich aus dem Einflussbereich des Bahnhofs Friedrichstraße heraus, bog wahllos um zwei Ecken und blieb schließlich mit wild klopfendem Herzen im Schatten eines Hauseingangs stehen. Dort lehnte ich mich mit dem
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