Ruf der Drachen (German Edition)
mich aus den Augen zu lassen. Schließlich nickte sie und stand auf. Doch bevor ich es ihr gleichtun konnte, wirbelte sie herum und tippte auf das Notenpapier, das vor uns auf dem Tisch lag. »Ich verstehe das nicht!«
»Was meinst du?«, fragte ich, während sich das diffuse Unbehagen in mir verstärkte.
Sie deutete mit dem Zeigefinger auf eine Stelle.
»Das hier. Der Rhythmus, den du auf dem Friedhof in Weißensee notiert hast. In Verbindung mit dem Rhythmus vom Kurfürstendamm kommt er mir irgendwie bekannt vor, ich weiß aber einfach nicht, woher. Das macht mich wahnsinnig!«
Mein Herzschlag setzte aus. Nur um einige Sekunden später loszujagen. »Moment! Welcher Rhythmus vom Kurfürstendamm?«
Unsere Blicke begegneten sich und mir wurde schlagartig kalt. Maren blinzelte kurz, nahm die Schultern zurück und atmete dann tief durch.
»Ich war heute nicht Klavier üben.«
»Sondern am Ku’damm.«
Sie nickte stumm.
»Wieso?«, fragte ich prüfend nach. Ich wusste von Rabbi Heim vom Wasserspeier am Kurfürstendamm, aber ich hatte weder ihn noch den Drachen, der sich vermutlich dort am Boulevard befand, nach meiner Rückkehr auch nur mit einem einzigen Wort erwähnt. Woher also wusste Maren davon?
Marens Gesicht wirkte plötzlich sehr hager im Licht der Bibliotheksleuchte und ihre Augen waren dunkle Seen, zu deren verborgener Tiefe ich keinen Zugang fand. Die Zeit schien stillzustehen, während ich auf eine Antwort wartete.
Schließlich seufzte Maren leise. »Es war nicht besonders schwierig, darauf zu kommen, oder? Die Strahlen der Sonne mussten ja auch nach Westen führen. Und da drängt sich der Kurfürstendamm eben einfach auf.«
»Ich finde, dass der Westen der Stadt ziemlich groß ist, um so vage ins Blaue hinein die Suche nach einem Wasserspeier zu starten«, erwiderte ich ernst.
Maren blickte mich an. Sie zuckte mit keiner Wimper, doch ich merkte, dass sie blass geworden war. »Glaubst du mir etwa nicht?«
Ich zögerte kurz, dann zuckte ich mit den Schultern.
»Ich weiß es nicht. Wenn du den Wasserspeier dort vermutet und gefunden hast, dann war das ein ziemlicher … Zufall.«
»Oder glückliche Fügung«, lächelte Maren, kam zu mir und strich mir mit den Fingerspitzen sanft über die Wange. »Genauso wie die Tatsache, dass wir beide im selben Seminar sitzen. Ich bin noch immer sehr froh darüber, dass du mit diesen bescheuerten Rosen bei mir aufgetaucht bist, Jakob. Wirklich.«
Sie versuchte abzulenken. Ich wollte es nicht wirklich wahrhaben, doch der Eindruck, dass Maren etwas vor mir verbarg, wurde immer deutlicher. Und irgendetwas an dieser Erkenntnis brannte sich als Schmerz in mein Herz.
Ich musterte sie einen Moment lang schweigend, doch sie hielt meinem Blick stand. Schließlich schluckte ich schwer und nickte. »Ja, das bin ich auch.«
Maren lachte leise.
»Dann ist doch alles gut! Willst du gar nicht wissen, welchen Rhythmus ich am Ku’damm gefunden habe?«
»Doch, natürlich«, erwiderte ich, ein leises Reiben in der Stimme. »Vor allem, wenn du glaubst, dass du die Rhythmik kennst.«
Maren zog eifrig ein Blatt Papier aus der Gesäßtasche ihrer Jeans.
»Hier, das ist er. Und ich kann mir einfach nicht erklären, weshalb er mir so bekannt vorkommt. Zusammen mit dem Rhythmus, den du in Weißensee gefunden hast …« Sie stöhnte entnervt auf und rang die Hände. »Es ist, als würde einem etwas auf der Zunge liegen, aber man kann es einfach nicht ausspucken!«
Ich musterte das Blatt mit den darauf gekritzelten Noten.
»Vielleicht musst du einfach noch ein wenig darüber nachdenken und dann …«
»Was meinst du eigentlich, was ich seit Stunden mache?«, brauste Maren auf. Dann trat sie hastig einen Schritt zurück, als hätte ihre übersprudelnde Reaktion sie selbst überrascht. Ich sah, dass sie schluckte.
»Jakob, entschuldige. Ich bin einfach furchtbar müde. Lass uns bitte nach Hause gehen, ja? Es war auch für mich ein langer Tag.«
Damit griff sie nach dem Blatt Papier, stopfte es achtlos in ihre Tasche zurück und wandte sich um, dem Ausgang zu.
***
Nach Hause – das meinte Maren wörtlich. Ich bekam keine Chance, sie zu begleiten.
»Nimm es mir nicht übel, aber ich muss noch einmal die Noten für die Klavierprüfung durchgehen. Und außerdem …« Sie stockte kurz, ging die letzte Stufe der Bibliothekstreppe hinunter und atmete tief durch. »Ich glaube, ich brauche ein bisschen Abstand.«
»Wie bitte? Warum?« Ich fühlte mich, als würde mir der Boden
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