Ruf der Drachen (German Edition)
herbstliche Himmel lag, und spürte einen Druck am Hals. Hätte sie sich nicht wenigstens verabschieden können? Oder mich vorwarnen?
Nein, warum auch? Es hat ihr ja nichts bedeutet.
Die Fakten sprachen eine eindeutige Sprache, ob mir das nun gefiel oder nicht. Maren war es nie um eine Beziehung mit mir gegangen. Alles, was sie getan hatte, war aus der Not heraus entstanden, Informationen liefern zu müssen. Oder zu wollen.
Ihre Familie gilt als linientreu.
War Maren tatsächlich eine überzeugte Hardlinerin, die für die Interessen ihres Staates alles getan hätte? Ich konnte es mir nicht vorstellen, aber es war ohnehin zu spät, um sie zu fragen – und in diesem Moment, reglos in ihrer Wohnung, in der die Schatten in den Ecken den Atem anzuhalten schienen, wurde mir erst wirklich klar, dass ich nichts von Maren wusste. Ich hatte sie noch so viel fragen, noch so vieles von ihr erfahren wollen. Doch selbst am letzten gemeinsamen Tag, den wir miteinander verbracht hatten, und in der darauffolgenden Nacht hatten die Gespräche über mich und meine Fähigkeiten viel mehr Raum eingenommen als alles, was Maren über sich preisgegeben hatte. Wovon nichts, wie ich jetzt wusste, auch nur einen Pfifferling wert war.
Ein bitterer Geschmack breitete sich in meinem Mund aus und die Seide des Kimonos fühlte sich plötzlich kalt an. Körper- und seelenlos. Ich ließ den Stoff durch meine Finger gleiten und wandte mich rasch ab, um weiterzugehen.
In Marens Zimmer wanderte mein Blick über die Bücherregale, über die Matratze mit dem zerwühlten Bettzeug, die plötzlich wie ein Relikt aus längst vergangenen Tagen wirkte – und blieb schließlich an Marens schwarzem Flügel hängen. Er stand wie aus der Zeit gefallen vor dem Fenster, still, wartend. Ich ging hinüber und legte vorsichtig eine Hand auf die elfenbeinernen Tasten. Klimperte einen Ton, dann noch einen, senkte die Finger in einen Akkord. Die Erinnerung daran, wie wir nebeneinander auf dem Klavierhocker gesessen und versucht hatten, den Rhythmen der Wasserspeier ihr Geheimnis zu entlocken, drängte sich in mir hoch.
Ich schloss die Augen und presste die Kiefer so fest zusammen, dass es schmerzte. Doch es lenkte ab von dem Schmerz im Innern. Es brachte mich zur nächsten Sekunde – und dann wieder zur nächsten. Zum nächsten Moment, zum nächsten Atemzug. Und es lenkte mich ab von der bitteren Tatsache, so offensichtlich getäuscht und verraten worden zu sein.
Wenn Maren doch alles längst gewusst hatte – wie hatte sie sich so verstellen können? Warum hatte sie mir vorgegaukelt, das Geheimnis selbst nicht zu kennen?
Weil sie herausfinden wollte, ob du es alleine schaffst , durchzuckte es meine Gedanken und der Schmerz in meiner Brust verstärkte sich. Plötzlich fühlte ich mich wie ein Zirkustier, dessen Dompteur noch beobachtete, ob sich die Arbeit denn auch rentieren würde.
Mir wurde übel, die Welt geriet ins Wanken und ich musste mich am Flügel festhalten, um die Balance zu halten. Der Akkord, den meine Finger dabei in die Tasten bohrten, schrägte sich dissonant in den Raum.
Aber da war doch etwas zwischen uns gewesen! Ich hätte schwören können, dass ich Maren nicht gleichgültig war! Sie hatte doch anfangs gar nicht wissen können, dass ich die Wasserspeier entdeckt hatte, dass ich etwas auf der Spur war! Und doch hatte sie mich geküsst – und die Nacht mit mir verbracht.
Was auch immer der Grund dafür gewesen war, ich würde es nie erfahren.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, während der Akkord langsam schwebend im Raum unterging, ließ der Schwindel nach. Als ich die Augen öffnete, fiel mein Blick auf die Noten, die direkt vor mir lagen. Die einzigen, die Maren auf dem Klavier gelassen hatte.
Ich runzelte die Stirn. Seltsam! Maren hatte immer darauf bestanden, dass nichts auf dem Flügel abgelegt wurde! Wieso lagen jetzt diese Notenblätter da, als hätte sie sie drapiert?
Meine Kehle wurde trocken, als ich die Blätter hochnahm, und für einen Moment tanzte das Schwarz und Weiß vor meinen Augen – dann klärte sich das Bild. Nahm Struktur an. Wurde zu Linien und Punkten, zu Musik, die mir merkwürdig bekannt vorkam, zu Noten, die ich ganz ähnlich erst gesehen hatte.
Ich zog scharf den Atem ein. Das war einer der Rhythmen, die ich an den Wasserspeiern notiert hatte! Ich überflog das Blatt – und plötzlich waren sie überall, verteilt über die verschiedenen Stimmen! Achtel, Viertel, Halbe, Pausen. Mein Blick glitt zur ersten
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