Ruf der Dunkelheit
wollte. Doch dann hatte mich dieses übermächtige Gefühl gepackt; und plötzlich konnte ich nichts anderes mehr spüren, als diesen unbändigen Zorn. Es machte erschreckend deutlich, wie sehr mein Körper von diesem inneren Zwang beherrscht wurde. Ich spürte, wie die ohnmächtige Wut langsam zurückwich und wieder Platz für andere Gefühle und Emotionen machte. Schlagartig wurde mir bewusst, wie sehr ich Tamara verletzt haben musste!
Doch anstatt einfach anzuhalten, lief ich immer noch, wie von einer fremdem Macht getrieben. Ich hörte das Blut in meinen Ohren rauschen. Neben meinem Kopf zischten die vorbeifliegenden Äste und plötzlich hatte ich einen merkwürdigen Geruch in der Nase. Aprubt blieb ich stehen; jedes Geräusch im Wald war verstummt. Nur der Wind ließ die Blätter der Baumkronen rascheln. Doch sonst war alles still.
Ich drehte mich um meine eigene Achse und lauschte angestrengt – irgendwas stimmte nicht. Da hörte ich es plötzlich: schlurfende Schritte, knackende Äste und ein unregelmäßiger Herzschlag. Ich biss mir auf die Lippen und wandte mich in die Richtung, aus der die Geräusche kamen.
Zwischen den Bäumen erkannte ich die schemenhaften Umrisse einer Person. Dem Geruch nach, war es ein Mensch. Ich hielt inne und kniff die Augen zusammen. Wer war denn um diese Uhrzeit noch allein im Wald unterwegs?! Irgendetwas war hier mächtig faul. Obwohl es stockdunkel war, kam die Gestalt geradewegs auf mich zu und ich erkannte das Gesicht einer jungen Frau, deren blonde, kurze Haare, gespickt mit Blättern, an ihrer verschwitzten Stirn klebten.
„Julian?“ Ihre Stimme klang matt und rau. Woher kannte sie meinen Namen?! Sie strauchelte und stützte sich an einem Baum ab, ehe sie ihren Weg in meine Richtung fortsetzte. „Wer bist du?“, rief ich ihr zu und in meiner Stimme schwang Unbehagen mit. Anstatt mir zu antworten, erklang ein kurzes Lachen.
„Ich … “ Sie sog schwer Luft in ihre Lungen, „habe ein Geschenk für dich …“, presste sie angestrengt hervor, während sie ein Messer aus ihrer Jackentasche zog. Wie in Zeitlupe sah ich, dass sie es an ihren Hals führte. „Nein!“, schrie ich auf. Obwohl ich nicht wusste, was vor sich ging, war mir bewusst, dass ich es nicht ertragen würde, ihr frisches Blut zu riechen. Nicht in meiner momentanen Verfassung.
Als ich gerade einen Satz auf sie zu machte, hörte ich, wie die Klinge sich durch ihre Haut, Sehnen und ihre Halsschlagader schnitt. Ich landete eine halbe Sekunde später neben ihr und augenblicklich strömte mir eine dunkelrote Blutfontäne entgegen. Schnaubend und röchelnd sank sie kraftlos in meine Arme. Der Duft ihres Blutes hinterließ ein Brennen in meiner Kehle. Es vermischte sich mit dem Geruch von Schweiß, nasser Erde und modrigem Holz.
Ich beugte mich über sie und sah in ihre Augen. Ihre Pupillen waren so geweitet, dass man glauben könnte, sie hätte eine schwarze Iris. Glasig schimmerte das fahle Mondlicht in ihnen, während ihr Lebensfunke schwächer wurde. „Jetzt habe ich meinen Auftrag erfüllt …“ Ihre Stimme war nicht mehr als ein Hauchen und drang so kaum noch durch meinen vernebelten Verstand hindurch. Ich lauschte dem Rauschen in ihren Adern und dem leisem Gurgeln, mit dem das Blut aus ihrer Wunde sickerte. Kraftlos hob sie ihren Arm und griff in mein Haar, während sie meinen Kopf noch näher zu sich herunter zog. „Trink von mir Julian – ich weiß, du willst es …“, wisperte sie, ehe sie rasselnd einatmete. Mein Herzschlag beschleunigte unwillkürlich, denn ich war der blutenden Wunde so nah, dass ich fast nichts anderes mehr wahrnahm. Mit schmerzhaftem Druck schoben sich meine Fangzähne aus dem Kiefer. Schaum trat mir vor den Mund und ich stieß ein gequältes Stöhnen aus, während ihre Hand noch energischer in meinen Nacken griff.
Oh Gott – nein! Ich durfte das nicht! Nicht mal einen Tropfen! Dass konnte ich Tamara nicht antun!
„Nun trink schon!“, ertönte die Stimme der jungen Frau plötzlich merkwürdig verzerrt neben meinem Ohr. Mit letzter Kraft riss sie an meinen Kopf und meine Lippen tauchten in ihre pulsierende Wunde, während sich der süßlich-metallische Geschmack ihres Blutes rasend schnell in meinem Mund ausbreitete. Dann sank ihr Arm kraftlos herunter und sie wurde ohnmächtig. Dass registrierte ich allerdings nur vage, denn in meinem Inneren zog sich alles zusammen.
Ein Kribbeln breitete sich über meine Haut aus und ich wollte in diesem Moment nichts
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